Maler des Nordens, Maler des Südens
In diesem Text beschreibt der Kunsthistoriker Prof. Dr. Michael Scholz-Hänsel die Darstellung des Hl. Bartholomäus durch Aris Kalaizis unter Einbeziehung kunsthistorischer Aspekte. Ferner sieht er im Maler eine personifizierte Verschmelzung der nördlichen und südlichen Hemisphäre
Sonderbar, wenn ein selbsterklärter agnostischer Maler plötzlich mit dem religiösen Stoffen arbeitet. Obwohl es keineswegs überraschend ist, dass weltlich-gesonnene Künstler immer Ausflüge in den Bereich des Religiösen unternommen haben. Während eines Interviews sagte der französische Autor Michel Houellebecq kürzlich der deutschen Wochenzeitung ›DIE ZEIT‹ dass eine Gesellschaft ohne Religion nicht überlebensfähig sei. Laizismus und kritischer Rationalismus, die eine grundlegende Abkehr von religiösen Ideen beschwören, sind ohne eine Zukunft.
…Kirchenruine im Meer
Der Leipziger Künstler Aris Kalaizis ist 1966 in Leipzig als Sohn griechischer politischer Emigranten geboren und wie Neo Rauch Schüler von Arno Rink an der HGB. Auf den ersten Blick scheint es, als seien beide Teil der neuen figurativen Malerei, die gern mit dem Etikett „Leipziger Schule“ versehen wird. Mit ihr teilen seine Werke die sorgfältige handwerkliche Erarbeitung und vor allem den von der Avantgarde um 1900 verworfenen und Jahrzehnte später von Arno Rink wiederbelebten Perspektivraum der Renaissance.
An ganz anderer Stelle jedoch müssen wir die Vorbilder für die unheimliche Stimmung seiner Bilder suchen, die ganz wesentlich auf dem Einsatz des Lichtes beruht. In einer kunsthistorischen Perspektive denkt man vielleicht an das Helldunkel von Caravaggio und Jusepe de Ribera, die gezielt auf klare Lichtquellen verzichteten, doch setzt sich seine exzessive Primamalerei ohne pastose Weißhöhungen wiederum technisch von diesen Vorbildern ab. Bei einer genaueren Analyse, wie sie nun vollzogen werden soll, stellt sich heraus, dass es nicht ein Paragone, ein Wettstreit, mit den Alten Meister sondern mit den modernen Medien ist, der seinen Bildern ihre außerordentliche Kraft verleiht und es zudem einige überraschende Verbindungen zur Konzeptkunst gibt.
Im Fokus unserer Überlegungen soll das gerade vollendete „Martyrium des Hl. Bartholomäus oder das doppelte Martyrium“ (2014÷15) stehen, ein mit den Maßen 250 x 285 cm wahrhaft monumentales Werk. Bereits 2009 schuf Kalaizis, selbst bekennender Atheist, mit „make/believe“ ein erstes religiöses Bild, das Papst Benedikt XVI. in einer kritisch gemeinten narrativen Komposition zeigt. Nun folgt mit dem „Hl. Bartholomäus“ ein Gemälde, das die unterschiedlichen religiösen Bildtraditionen in Nord- und Südeuropa in irritierender Weise zusammen führt und viele Fragen aufwirft. Das Bild wird ab April im Frankfurter Dom (geweiht dem Hl. Bartholomäus) zu sehen sein.
Den Rahmen für das religiöse Thema bildet ein gewaltiges Landschaftspanorama, das in drei etwa gleichgroße Bildzonen unterteilt ist. Den Vordergrund markiert ein grüner Küstenstreifen, auf dem sich die figurative Hauptszene abspielt, es folgt ein Gewässer, das mit einem schmalen rot gefärbten Horizont abschließt und in dessen Mitte eine Kirchenruine steht und über allem hängt ein düsterer Wolkenhimmel. Es dominieren kalte Farben, denen einzig der rote Himmelstreifen und der Widerschein eines Feuers gegenüber steht, in dem Bücher verbrannt werden.
Im Zentrum des Werkes auf dem grünen Plateau des Vordergrundes ereignet sich die Schindung des Hl. Bartholomäus, der mit gefesselten Beinen von einem seiner Folterer kopfüber auf einer angeschrägten Leiter präsentiert wird. Zwei weitere Figuren zu Seiten der Hauptszene beteiligen sich aktiv an dem grausigen Geschehen. Obwohl der eine sitzend von vorne und der andere stehend von hinten gezeigt sind, sieht man doch an der Kleidung und der Haartracht gleich, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Der Sitzende hält ein großes Messer, mit dem er dem Hl. Bartholomäus wahrscheinlich ein erstes bereits herabhängendes Stück Haut abgezogen hat, der Stehende fasst mit beiden Händen ein Seil, das angespannt die gebundenen Füße des Heiligen emporhält.
…neben verschiedenen diagonalen Achsen, die durch die Gliedmaßen markiert sind, verknüpfen auch die über den Boden verteilten blauen Bücher die Handelnden
Alle Handelnden des Vordergrundes sind durch eine kunstvolle Komposition verbunden, die den Heiligen in ihrem Zentrum hat. Neben verschiedenen diagonalen Achsen, die durch die Gliedmaßen markiert sind, verknüpfen auch die über den Boden verteilten blauen Bücher die Handelnden. Allerdings ist die Gewichtung der beiden Bildhälften sehr unterschiedlich. Wird auf der rechten Seite durch das Seil ein weitgehend leerer Raum, eine Art Denkraum umrahmt, so finden sich auf der linken Seite mehrere Motive: neben dem Feuer, ein Vulkan am Horizont und ein halb im Wasser stehender Mann, der ein brennendes Buch emporhält. Letzterer dürfte für die Bildinterpretation von größerer Bedeutung sein, denn der Sitzende mit dem Messer, der den Betrachter ins Bild leitet, weist mit dem ausgestreckten Arm auf ihn hin.
Ikonografisch markiert das Bild einen dramatischen Wendepunkt, für den der Ausgang offen ist. Der düstere Himmel erinnert an apokalyptische Versionen, wie sie in den letzten Jahren die Kinoleinwände beherrschten. Ich habe gleich an Lars von Triers „Melancholia“ (2011) gedacht. Der Hl. Bartholomäus wiederum steht in einer langen Tradition, die mit Michelangelo begründet wurde, der sich im „Weltgericht“ in der Sixtina selbst in der Haut des Heiligen porträtiert hat. Wichtiger noch als Vorbild dürften die zahlreichen Interpretationen des Themas durch Jusepe de Ribera sein, der einen besonderen Akzent setzte, indem er auf die bis dahin übliche Darstellung der Belohnung für das Martyrium, meist eine Krönung durch Engel, verzichtete und damit den weltlichen und letztlich brutalen Charakter dieses Bildtypus verstärkte.
…ganz ähnlich dem Engel in „make/believe“, mit Blick auf die Kirchenruine zur Umkehr aufzurufen
Die Kirchenruine im Meer schließlich ruft natürlich die romantische Tradition von Caspar David Friedrich wach. Die ungewöhnliche Wahl des Gewässers hat vielleicht einen regionalen Hintergrund. Man denkt an die durch die Braunkohle versunkenen Orte im Leipziger Umland, die in den letzten Jahren geflutet, inzwischen durch eine touristische sehr beliebte Seenlandschaft ersetzt wurden. Dazu passt, dass sich Kalaizis für die Kirche ein konkretes Modell in der Klosterruine von Wachau (bei Leipzig) nahm. So gesehen erhält nun auch der Mann im Wasser mit dem brennenden Buch seinen Sinn. Er scheint, ganz ähnlich dem Engel in „make/believe“, mit Blick auf die Kirchenruine zur Umkehr aufzurufen. Das warme Rot in seinem Inkarnat steht im Gegensatz zum kalten Blau der Männer im Vordergrund und verdeutlicht, dass er nicht zu ihnen gehört. Im Sinne des Bildtitels finden sich also hinter dem plakativen Martyrium des Hl. Bartholomäus weitere, die es zu einem „doppelten“ machen.
Schwerer zu deuten sind die brennenden Bücher. „Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“, heißt es bei Heinrich Heine, aber Bücher wurden auch von der Inquisition verbrannt, um ihre Rechtgläubigkeit auszutesten. Denn die wahren Bücher sollten sich angeblich in die Lüfte erheben und so dem Feuer entziehen. Bei Kalaizis wird lediglich eines von dem Mann im Wasser empor gehalten. Ist es gar in Umkehrung der katholischen Position die Bibel, die Luther im Sinne von „sola scriptura“ für die Lektüre als ausreichend empfand? Ganz offensichtlich verkomplizieren sich an dieser Stelle die Deutungswege.
Die letzten „sakralen“ Arbeiten von Kalaizis entstanden vor dem Hintergrund eines nicht erst seit dem Pariser Terroranschlages entflammten Diskurses um die Bedeutung der Religion in modernen Gesellschaften. Nach meiner Beobachtung spiegeln sie eine allgemeinere Tendenz, die sich in ganz unterschiedlichen Medien, wie den eher traditionellen Papstporträts von Michael Triegel, den Kirchenfenstern von Richter, Lüpertz, Rauch etc. aber auch in überraschenden, frei erfundenen Heiligenporträts der Street Art ausdrückt.
Aber anders als Triegel, der wie unser Künstler derselben „Leipziger Schule“ entstammt und sich jüngst zum Katholizismus bekehrte, weist der „Atheist“ Kalaizis eine Haltung auf, deren kritischer Umgang mit der Religion in manchem an den neuen Erfolgsroman von Michel Houellebecq „Unterwerfung“ (2015) erinnert, der gleichwohl erst nach Fertigstellung des Bildes erschien. Dort folgt der Protagonist in einer allgemeinen gesellschaftlichen Krise zunächst seinem Vorbild, dem Schriftsteller Joris-Karl Huysmans ins Kloster, um dann doch eine sehr profane Alternative zu leben, die nun anders als bei Kalaizis voller Selbstironie steckt.
…weder der Protestantismus und die Kunst des Nordens (z.B. Caspar David Friedrich), noch der Katholizismus des Südens (Michelangelo, Ribera etc.) führen aus der aktuellen Krise
Auch Kalaizis weiß natürlich, dass er mit seinem konzeptuellen Bild niemand zurück zum Glauben führen wird, und seine Zielvorgabe ist somit keineswegs die Rückkehr zu den vermeintlichen abendländischen Wurzeln. Das Christentum liegt in Ruinen und hat seine Gewaltexzesse noch nicht wirklich verarbeitet, das bekommen wir hier überdeutlich vorgeführt. Weder der Protestantismus und die Kunst des Nordens (z.B. Caspar David Friedrich), noch der Katholizismus des Südens (Michelangelo, Ribera etc.) führen aus der aktuellen Krise, die nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine spirituelle ist.
Und so ist es auch keine Überraschung, dass es die deutlichsten Parallelen zu dem Werk von Kalaizis nicht bei Triegel sondern bei Gregory Crewdson, einem derzeit sehr erfolgreichen Repräsentanten der Inszenierten Fotografie gibt. Schnittflächen bestehen hier sowohl hinsichtlich der evozierten Stimmungen, als auch in der Machart bzw. dem Entstehungsprozess der Bilder. Beide Künstler bereiten ihre Arbeiten über viele Stufen vor und setzen dabei das Medium der Fotografie ein, um Raum für Reflexion zu schaffen. Kalaizis wählt zunächst einen konkreten Ort – das kann ein verlassenes Gebäude in Leipzig und Umgebung, aber auch ein Nachbau im Atelier sein – und versammelt dann dort die Personen und Objekte, die er darzustellen plant. Danach folgt eine kunstvolle Inszenierung, bei der die Lichtregie, genau wie bei Crewdson, eine zentrale Rolle spielt. Das in diesem komplexen Prozess gefundene Bild erfährt schließlich eine fotografische Dokumentation, die im Atelier kunstvoll in ein Gemälde umgesetzt wird.
Kalaizis und Crewdson offerieren dem Betrachter eine erweiterte Realität, die wieder Raum für Phantasie und Beifang lässt, den die immer zielgenauere benutzerorientierte Technik gerade auszuschließen sucht.
Mit Blick auf Kalaizis hat die amerikanische Kunsthistorikerin Carol Strickland dafür den Begriff „Sottorealismus“ geprägt. Die religiösen Bilder von Kalaizis gehen aber noch einen Schritt weiter. Zum einen klagen sie bei der etablierten Kirche vehement die verlorene Spiritualität ein und zum anderen offerieren sie dem Betrachter ein christliches Bildvokabular, das dem allgemeinen Bewusstsein immer mehr zu entschwinden droht, verbunden mit der Forderung, es endlich mit neuem Leben zu füllen.
Übersetzt von Paul-Henri Campbell
Michael Scholz-Hänsel, geb. 1955, ist Professor für Kunstgeschichte an der Universität Leipzig mit Schwerpunkt bei der iberoamerikanischen Kunst. Neben Monografien über El Greco und Jusepe de Ribera publizierte er "Inquisition und Kunst. 'Convivencia' in Zeiten der Intoleranz" (2009) und war Mitherausgeber von "Armut in der Kunst der Moderne" (2011) sowie "El Greco und die Moderne" (2012).
©2014 Michael Scholz-Hänsel | Aris Kalaizis