Aris Kalaizis

Skizzen zu einer nachmodernen Ästhetik

Ein philo­soph­isches Trak­tat von Max Loren­zen, in dem das oft wieder­kehrende Dop­pel­gän­ger­motiv in den Bildern des Neue Leipzi­ger Schule – Malers Aris Kala­izis, zugleich als Mög­lich­keits­form für ein­en dop­pel­ten Boden gefasst wer­den soll. Der Ver­such ein­er Deutung

Aris Kalaizis, Detail: In der Stille der Nacht | Öl auf Leinwand | 130 x 150 cm | 2008
Aris Kalaizis, Detail: In der Stille der Nacht | Öl auf Leinwand | 130 x 150 cm | 2008

Amerika 2005


Kala­izis, in der DDR aufge­wach­sen­er Sohn griech­is­cher Exil­anten, mit­tler­weile prom­in­entes Mit­glied der sogenan­nten Leipzi­ger Schule, hielt sich 2005 zum ersten Mal länger in den USA auf. Die in diesem Jahr entstanden­en Bilder, abgedruckt im Aus­s­tel­lung­skata­log "Rub­ba­cord", ver­schmelzen die für Kala­izis typis­che Them­atik: rät­sel­hafte Situ­ation­en, die auf die Präsenz des Unheim­lichen, nicht direkt Aus­s­prech­bar­en ver­weis­en, mit Ele­men­ten amerik­an­is­cher Land­schaft und Architektur. 


Man ver­steht gleich, war­um diese nicht ein­mal kal­ten, son­dern nur glat­ten und steri­len Beton- und Glas­fas­saden so ohne wei­t­eres Eingang in Kala­izis Bild­welt fanden; sie ents­prechen seinem Bedür­fnis nach "Rein­heit und Klar­heit des Hin­ter­grundes […], um den keineswegs so klar­en Szenari­en ein­en Halt zu geben. Ich benötige die per­spekt­iv­is­che Ord­nung des Raumes, die Interak­tion von Farbe, die den Geb­rauch ein­er strikt begren­zten Palette in sich schließt" (Inter­view zwis­chen Jan Siegt und Aris Kala­izis, "Rub­ba­cord" S. 19). "Olentangy River I – III", alle im Tondo-Format, zei­gen selt­same Beton­for­men vor dem Wasser des Flusses, bzw. in es hinein­ra­gend, im Hin­ter­grund die Baum­ve­get­a­tion des ander­en Ufers.


…Präsenz des Unheim­lichen, nicht Aussprechbaren


Deut­lich tritt die Kon­front­a­tion zwei­er Bereiche her­vor. Auf dem ersten Bild der Serie umgren­zt eine saubere Beton- oder Steinein­fas­sung ein­en äußerst künst­lichen Rasen, dessen helles syn­thet­isches Grün sich gleich­sam irreal vor dem Wasser, den dunklen Bäu­men und dem blass­blauen Him­mel mit den weißen Wolken abhebt. Beide Zon­en, die Mensch­lich- Künst­liche und die Naturhafte, stehen in einem indirek­ten Span­nungs­bezug; sie demen­tier­en sich gegen­seit­ig. Deckt man den unter­en Bildteil ab, bleibt ein relat­iv fried­liches Naturstück übrig, dessen Abgründigkeit – nur leicht durch die andere Farbe des strö­menden Wassers und den schwar­zen Rand des jen­seit­i­gen Ufers angedeutet – erst durch die anschein­ende "Rein­heit und Klar­heit" des Vorder­grundes akzen­tu­iert wird. 


Merkwür­dig ist nun, wie dieser sel­ber etwas Zwie­lichtiges bekom­mt. Man traut plötz­lich der Sauberkeit und dem Fried­lichen nicht mehr und nim­mt eine irgend­wie mit ihm ver­bundene Bed­roh­lich­keit wahr. "An der Oper": eine helle Straße, wie­der­um ein gep­flegtes Rasen­stück, sow­ie die Stein­wand eines Gebäudes mit fünf rechtecki­gen Öffnun­gen, vier dav­on Fen­ster, in den­en sich, gän­z­lich uner­war­tet, ein dunk­ler Wald spiegelt, die fün­fte viel­leicht eine Tür – zu der­en Stufe ein tat- säch­lich orange­farben­er Sandweg führt (hineinkom­poniert in die Szen­er­ie wie das Ver­satz­stück aus einem Pop-Art-Bild) – , durch die zu gehen man sich nicht recht trauen würde, weil sie viel­leicht, wie die Ein­fahrt auf "Der falsche Weg", in ein Gebiet des Düster­en und Unwäg­bar­en führt. Liegt es etwa inner­halb dieses Gebäudes, zei­gen die Spiegel­un­gen nichts Äußeres, son­dern legen sie bloß, was hinter der Fas­sade steckt? 


…die Spuren eines Rasen­mäh­ers auf dem Gras vor der Oper führen direkt zu den Glasscheiben der Fenster


Diese Assozi­ation ist sicher­lich nicht falsch, kön­nte aber den­noch in die Irre führen. Hinter der glat­ten Fas­sade des Bewusst­seins, unter der Ober­fläche des Ich-Pan­zers liegt bekan­nt­lich, zufolge des psy­cho­ana­lyt­ischen Ansatzes, das zu allen Aggres­sion­en bereite Ver­drängte. Mit nichts sind wir Europäer schneller bei der Hand, als dam­it, die Gewalt­po­ten­ziale der verding­licht­en amerik­an­is­chen Gesell­schaft aufzus­püren. Mög­lich­er­weise bedien­en wir uns dabei eines the­or­et­ischen Kon­strukts, das längst zweifel­haft geworden ist. Viel­leicht spielt Kala­izis mit ihm, ohne sich sein­en Voraus­set­zun­gen anzuschließen. Schauen wir genauer hin. Die Spuren eines Rasen­mäh­ers auf dem Gras vor der Oper führen direkt zu den Glasscheiben der Fen­ster; es ist bei­nahe, als wäre das Ger­ät in sie hineinge­fahren, also in die Sphäre des Waldes eingedrungen. 


Aber diese Sphäre liegt nicht hinter dem Bild, es ist sie sel­ber. Wenn es uns gelänge, die auf den Scheiben lie­gende Spiegel­ung, die ja zun­ächst auf ein­en vor dem Bild lie­genden Raum und dann even­tuell auf ein­en ander­en hinter ihm ver­weist, als dessen Ober­fläche wahrzun­eh­men, auf der sich Helles und Dunkles begegnen, ver­wan­del­ten wir uns wahrhaft in seine Betrachter und sucht­en nicht länger in oder gar hinter ihm nach sich zei­genden oder ver­ber­genden Gegen­ständen. Das Bild ver­weist auf seine eigene Ober­fläche, also auf sich selbst.

Aris Kalaizis | Der falsche Weg | Öl auf Holz | 60 x 90 cm | 2006
Aris Kalaizis | Der falsche Weg | Öl auf Holz | 60 x 90 cm | 2006

So führt auch der Eingang in "Der falsche Weg" nicht in ein­en ander­en Bereich, son­dern kon­stitu­iert gemein­sam mit der Haus­fas­sade und ihren blauen Fen­stern, dem Rasen­stück, der Straße und der Dop­pelfig­ur des Mäd­chens im Anor­ak seine Fläche, auf oder in der sich seine gegensätz­lichen Kom­pon­en­ten tref­fen. Und "Die Nacht an jedem Tag", die das Dop­pel­gän­ger­motiv variiert und mul­ti­pliz­iert, weist schon im Titel darauf hin, dass die Nacht, die bed­roh­lichen Wolken, das zweite kleinere Haus mit seinem leer­en Fen­ster und natür­lich die vor ihm stehende schwarz gekleidete Frau, die Anwesen­heit des Finster­en und Rät­sel­haften im Licht des Tages sel­ber und dam­it auf der Bild­fläche fürs innere Auge wahrnehm­bar machen. 


Das Inein­ander des Gegensätz­lichen gibt sich sel­ber als Kom­pos­i­tion zu erkennen: Das Bild besteht nicht aus gemal­ten Gegen­ständen, son­dern aus Flächen und Struk­turen, die ein­en "Ort" bilden, der "erst die Ereign­isse" oder Fig­uren, auf die sich zun­ächst die Aufmerksamkeit richtet, her­vor­bringt (Inter­view, S. 21); dar- in, dass es mit­tels sein­er Inhalte auf sich selbst weist, besteht ein wesent­liches Ele­ment sein­er Reflektiertheit.

Es bedeutet mith­in nicht etwas anderes, weil es, was sich als Bedeu­tung iso­lier­en will, zurück­n­im­mt und ins eigene Dasein integ­riert. Dam­it stiftet es seine spezi­fis­che Real­ität. Welch­er Art sie ist, bedarf weit­er­er Unter­suchung. "Aber alle Kunstwerke haben ja im Grunde nur geschafft, dass es nicht total bes­ti­al­isch wird, nichts anderes" (Gespräch mit Jan Siegt von 1997, in: "Von unvor­eili­gen Ver­söh­nun­gen") – aber wodurch schaf­fen sie das? Kala­izis gibt den fol­genden wichti­gen Hin­weis: "Kunst ist doch immer Freude, ob ich nun etwas Fröh­liches entwickle oder etwas Tra­gisches darstelle" (Inter­view, S. 25). Diese Freude entsteht, sie beg­leitet, nein, sie ist das Zen­trum des Inspir­a­tion­sprozesses, der den Raum des Bildes struk­tur­iert: man "merkt, jet­zt ras­tet alles ein, und ein Moment himml­is­cher Ruhe tritt ein" (Gespräch, 1997). In diesem Moment ist, präzise gesprochen, das "Inbild" (ebda.) des Bildes entstanden. 


Denn das, was man auf ihm sieht, sind Abbilder des Eigent­lichen, aus dem es existiert. Das Inbild, das im Moment der Ruhe her­vortritt, ist die Kom­pos­i­tion sel­ber, der Raum, in dem sie sich kon­fig­ur­iert. Wir haben schon gese­hen, dass er für Kala­izis aus einem Inein­ander des Gegensätz­lichen besteht. Somit kom­mt dem Bed­roh­lichen und Düster­en eine wesent­liche Funk­tion zu: Ohne es kön­nte es keine Span­nungs­bez­iehung, also kein Zugleich des sich schein­bar Aus­schließenden geben. Man wird folg­lich das Nächt­liche und Schwar­ze nicht ohne wei­t­eres mit dem Bes­ti­al­is­chen gleich­set­zen dür­fen. Es macht viel­mehr die ver­borgene Anwesen­heit eines Bezirks der Gefahr, ohne den es Kunst gar nicht geben kön­nte, kenntlich. 


Wer nicht, Maler oder Rezipi­ent, durch eine spezi­fis­che Gren­züber­s­chreit­ung in diesen Bezirk gelangt, wird, selbst wenn er nicht-gegen­ständ­lich malt oder dif­fer­en­zierte kun­st­geschicht­liche Kri­ter­i­en bei der Betrach­tung ver­wen­det, nur blasse Abbilder der Wirk­lich­keit produzier­en oder der­en farb­liche Wieder­gabe als Bild wahrneh­men. Die Kom­pos­i­tion sel­ber ist unsicht­bar – sie erscheint in der Gegen­span­nung von Klar­heit und Rät­sel­haftigkeit, Form und Nicht-Sag­bar­em als Ober­fläche oder Inbild des Bildes. 
Zu ihr muss auch der Betrachter kom­men, und das kann ihm nur gelin­gen, wenn er in ein­er Steiger­ung der Intens­ität seines Sehens die Gleichberech­ti­gung sowohl von Kon­tur­ier­theit und Dop­pel­bödi­gem, als auch von figür­lich­er Kom­pos­i­tion und der­en Reflex­ion oder Selb­stauf­hebung in den Blick nim­mt. Zeigt das Bild auf seine Ober­fläche, so reflektiert es über sein Dasein und erken­nt sich selbst als Zugleich des Gegenwendigen.

An der Oper | Öl auf Holz | 60 x 90 cm | 2005
An der Oper | Öl auf Holz | 60 x 90 cm | 2005

Die Freude des Malers, die sich bei sol­cher Selb­ster­ken­nt­nis sein­er Schöp­fung ein­stellt, res­ultiert mith­in aus der Wahrnehmung ein­er spezi­fis­chen Par­al­lel­ität des Ver­schieden­en, das sich ein­er­seits aus­schließt und ander­er­seits deswe­gen mitein­ander kom­mun­iz­iert. Im Akt des Malens dieser Sim­ul­tan­ität innezuwer­den, ist gleichbedeu­tend dam­it, sich in gesteigert­er Konzen­tra­tion und Wach­heit in den Inspir­a­tion­sraum des Inbildes zu begeben und hier in akt­iv-pass­iver Tätigkeit dem, was geschieht, beizu­wohnen: "Bin ich es, der malt? Flüstern in mein­en Bildern nicht der Ozean oder das Feuer, die Erde, das Geschlecht, die Nation, die Geschichte?" (Gespräch, 1997) Das "Fröh­liche" und das "Tra­gis­che" sind not­wendig gleich­er­maßen Ele­mente der Freude, die das Entstehen von Kunstwerken beg­leitet. In der sich ent­fal­tenden Epoche der Nachmo­d­erne, die plurale psy­cho-soziale Gefüge gen­er­iert, wird es zun­ehmend mög­lich, in Par­al­lels­itu­ation­en zu leben: Es bereit­et den Menschen heute keine Schwi­erigkeit mehr, sich zugleich als frei und unfrei, gläu­big und ungläu­big, emo­tion­al und ration­al, lebens­be­ja­hend und ang­ster­füllt anzuse­hen, ja, es scheint, als ents­preche erst die Gleichzeit­igkeit unter­schied­lich­er Empfind­un­gen dem Existen­zge­fühl der Geg­en­wart. Kalaizis' Bilder legen nicht nur die Grundkom­pon­en­ten dieses Gefühls bloß, sie entstehen in seinem Innen­raum und beteili­gen sich akt­iv an der Schaf­fung der Meta­phern­feld­er, in den­en es sich ausspricht. 


…Bilder entstehen in seinem Innen­raum und beteili­gen sich akt­iv an der Schaf­fung von Metapherfelder


Die Annäher­ung an die Malerei von Aris Kala­izis hat nun in einem ersten Sch­ritt ein­ige wichtige Kom­pon­en­ten der von sein­en Bildern ges­tifteten Real­ität aus­gemacht. Ihr Dop­pel­bödiges ist nicht mehr als Entlar­vung eines def­iz­ien­ten, sich ent­frem­de­ten Daseins zu dech­if­fri­er­en, son­dern zum ein­en Ind­iz ein­er not­wendi­gen Gren­züber­s­chreit­ung, zum ander­en Teil ein­er Span­nungs­bez­iehung, der­en Insges­amt erst den Bereich nachmo­d­ern­er Inspir­a­tion bil­det: Freude, in ihr­er intens­iven, von Kunst gewährten Form, ist nicht das Gegen­teil von Trauer – wer sie empfin­d­et, nim­mt das Leben als par­al­leles Gefüge, in dem sich Bejahung und Vernein­ung, Lust und Schmerz, Schönes und Schreck­liches in einem unwäg­bar­en Zugleich gegen­seit­ig in die Schwebe brin­g­en, wahr. Die "himml­is­che Ruhe", die sich ein­stellt, wenn "die Fig­uren ihr Heim" im "inner­en Ort" des Bildes bekom­men (Inter­view, S. 22), ist nichts, was ohne sein Gegen­teil, die fortwährende Beun­ruhi­gung der Gren­züber­s­chreit­ung, existierte (sie ist das Gegen­teil ein­er "spannungsarme[n] Fre­und­lich­keit", "Rub­ba­cord", S. 11). Die Real­ität der Bilder, die Kala­izis malt, ist in diejenige der nachmo­d­ernen Gefüge integ­riert; beide enthal­ten oder sind das Nebenein­ander von Schreck­en, "Bes­ti­al­ität" und Daseins­be­jahung. Wie können sol­che Gegensätze in unge­m­ind­ert­er Schärfe im sel­ben Zeitraum, dem der Geg­en­wart, existieren? 


…Nebenein­ander von Schreck­en, "Bes­ti­al­ität" und Daseinsbejahung


Wer das beden­kt, schaut die Rät­sel­haftigkeit des nachmo­d­ernen Lebens sel­ber an, die ihm aus den Bildern, die es erzeugt, ent­ge­gentritt. II "Am Mor­gen danach" Die neuen Bilder, 2006 alles­amt in Leipzig gemalt, blenden, bis auf "Das Holzhaus", amerik­an­is­che Remin­iszen­zen so gut wie voll­ständig aus. Aber in der Kom­pos­i­tion hat sich ein Wan­del vollzo­gen, der viel­leicht durch die Erfahrungen des Aufenthaltes in den USA begün­stigt wurde. Zwar sind wie­der­um Frau und Tochter des Künst­lers seine bevorzugten Mod­elle, aber sie wer­den gän­z­lich anders als noch in den 2004 entstanden­en Arbeiten inszen­iert. Da wir nun wis­sen, dass die Fig­uren vom Raum, in dem sie sich befind­en, her­vorge­b­racht wer­den, len­ken wir den Blick zun­ächst auf ihn. "Am Ende der Ungeduld": ein Zim­mer mit hohen Wänden und eben­falls hoch­lie­genden Fen­stern, die Vorhänge zugezo­gen, neben dem linken und dem recht­en eine Lampe und unter ihnen jew­eils ein Heizkörp­er, an der linken Wand ein breites Bett mit zer­wühl­ten Laken – alles in ein intens­ives grünes Licht getaucht, dessen Quelle nicht aus­zu­machen ist. Bis auf das Bett ist alles zweim­al vorhanden, es führt also eine Dif­fer­enz in die räum­liche Dop­pel­struk­tur ein. Das auf ihm lie­gende bei­nahe unbekleidete junge Mäd­chen bedarf folg­lich eines Pendants, welches das Gleichgewicht wieder­her­stellt und, schein­bar wider­sprüch­lich, ineins dam­it, seine Auf­hebung mar­kiert. Rechts an der Wand steht die Dop­pel­gän­ger­in der Lie­genden und schaut in sich ver­sunken auf Heizkörp­er und Wand.


Der Titel des Bildes lässt an ein­en ersten sexuel­len Kon­takt den­ken. Die von ihr­em Gegen­pol abgespaltene Gestalt, die Seele des noch sch­lafenden Körpers, grü­belt über das, was ihm wider­fahren ist, nach – kün­ftigh­in wird dieses Mäd­chen in gedop­pel­ter Weise existier­en, mit sein­en körper­lich-psych­is­chen Bedür­fn­is­sen und Begier­den und der schat­ten­haften Erin­ner­ung an etwas unwieder­bring­lich Ver­lorenes. Nicht von unge­fähr also zeich­net sich hinter der Stehenden ein bed­roh­lich wirkender Schat­ten ab, der nicht vom dif­fus ein­fal­lenden Tages­licht, son­dern offen­bar von ein­er an der Bett­seite befind­lichen irrealen Lichtquelle erzeugt wird. Mel­an­cholie und eine gewisse frühe Laszvität, gegen die sich der Betrachter wehren zu müssen glaubt, machen gleich­er­maßen die Stim­mung des Bildes aus. 


Wir stehen vor ein­er Szene, wie sie intimer nicht sein kann und ers­chreck­en vor der malerischen Rig­oros­ität, mit der sie uns präsen­tiert wird. In viel stärker­em Maße als auf den früher­en Arbeiten wird hier Per­sön­lich­stes (das bedeutet nicht gleich: Bio­grafisches), die Körperseele, in hartem Zugriff offengelegt und malerisch transformiert."Am Ende der Ungeduld", die Nike-Bilder und a for­tiori "Am Mor­gen danach" sind Gren­züber­s­chreit­ung schlech­th­in: Sie ben­utzen das Uner­laubte, um ein­en Bereich zu erzeu­gen, in dem sich in ungeschützter Krassheit die Frage nach den Bedin­gun­gen nachmo­d­ern­er Kunst stellt. Die Frage selbst wird zur Meta­ph­er ihr­er Ant­wort. "Nike" und "Nike II" wieder­holen, para­dox for­mu­liert, das Dop­pel­gän­ger­motiv von "Am Ende der Ungeduld", indem sie es auf zwei Bilder ver­teilen. Das erste zeigt wie­der­um das erschöpfte Mäd­chen, offen­bar sch­lafend, den mager­en Körp­er in unbe­wusster Geste dar­bi­etend; er ist, wie nicht nur die klein­en Brüste erkennen lassen, der ein­er Puber­ti­er­enden und hat doch zugleich etwas Abgen­utztes oder Ver­braucht­es, ja Altes.Eros erscheint als Jugend­lich­keit und Zeit in einem.

Die linke Hand – auch der linke Fuß – ragt in den Bild­vorder­grund. Sie wirkt abgearbeitet, die Haut ist stel­len­weise ger­ötet, Fin­ger und Dau­men gehören eher ein­er Erwach­sen­en, als diesem Kind. Natür­lich wird der Blick des Betrachters, gerade wenn er es ver­meiden will, auch den Sch­ritt-Bereich abtasten, der vom ein­zi­gen Kleidungsstück eigent­lich nicht ver­bor­gen, son­dern eher her­vorge­hoben wird, aber mehr als er, auch mehr als die bei­nahe ins Grobe ent­gleisten Gesicht­szüge mit den geschlossen­en Lidern, die doch, wie manch­mal bei Kindern im Tief­sch­laf, durch ein­en Spalt die wie leblosen Augen ahnen lassen, pro­voziert eben jene Hand ein tiefes Gefühl der Scham. 


Es hat, so scheint mir, zwei Ursachen. Zum ein­en ruft die raue, ver­arbeitete Haut wie­der­um gerade den Gedanken an die frühe Sexu­al­ität des Mäd­chens her­vor und erweckt so die Assozi­ation ein­er ursprüng­lichen Kor­rumpier­theit des Natür­lichen, mit der sich auch die andere von Aus­beu­tung und Miss­brauch ver­bind­et; zum ander­en befrem­det die schonungslose Darstel­lung des Häss­lichen oder doch zumind­est Nichtschön­en bei einem Sujet, das in klassisch-mod­ern­er Sicht das Gegen­teil, wenn nicht Schön­heit, so doch Unschuld, aus­drück­en soll­te. Das Bild gibt sich mith­in in mehr als ein­er Hinsicht als indezent zu erkennen. Sein Pendant, "Nike II", erfüllt auf den ersten Blick eher die Anfor­der­ungen ein­er tradier­ten Ästhet­ik. Das Mäd­chen sucht wohl Schutz und Gebor­gen­heit in dem kom­pak­ten, es schein­bar aufnehmenden Ses­sel, lässt sich aber zugleich in sor­gloser Unver­hüll­theit betrachten.


Viel­mehr scheint sich in ihr ein Wis­sen um die Körper­lich­keit der eigen­en Existenz auszusprechen


Schaut man näh­er hin, wird man gewahr, dass es zwis­chen dem ruhenden Körp­er und sein­er Umge­bung keine Ver­bindung gibt. Das dunkle Leder des Ses­sels weist kein­er­lei Ein­buch­tun­gen auf, Körp­er, Kopf und Arme des Mäd­chens bewirken keine Ver­for­mun­gen des Mater­i­als, das wie unber­ührt bleibt. Man ist bet­ro­f­fen: Das Kind, das eigent­lich schon keins mehr ist, begin­nt, einem leid zu tun; offen­bar geht von dem, das ihm Schutz gewähren soll­te, eher eine Dro­hung aus. Aber ist seine gelassen-entspan­nte Hal­tung dann nicht umso selt­samer? Entweder spürt es die Kälte sein­er Umge­bung nicht, oder sie beeindruckt es nicht. Jeden­falls tre­ten hier Nähe und Dis­tanz in eine ungewöhn­liche Rela­tion. Sie schein­en in ein­er sonst für unmög­lich gehalten­en höchst para­dox­en Weise zu koex­istier­en. Das sch­lafende und doch irgend­wie auch sinnende Mäd­chen, die Dop­pel­gän­ger­in des sich erschöpft und in naiver Laszvität aus­ruhenden, wirkt ein­sam, aber keineswegs ver­stört oder ver­let­zt, son­dern eher gefest­igt, das Gesicht hat gar etwas Abweis­endes oder Selbstbezügliches. 
Man begre­ift plötz­lich, diese Gestalt ink­arniert keineswegs die Unschuld, die der ander­en ver­lorengegan­gen ist, ihre Mel­an­cholie res­ultiert nicht aus dem Leid, das Abweisung oder Schlimmeres her­vor­gerufen hät­ten. Viel­mehr scheint sich in ihr ein Wis­sen um die Körper­lich­keit der eigen­en Existenz aus­zus­prechen. Und eben dieses Wis­sen, weni­ger das erin­nernde Bedauern um die ver­lorene Unber­ühr­theit, käme auch, wie man nun, noch ein­mal "Am Ende der Ungeduld" betrachtend, fest­s­tel­len kann, dem ander­en Mädchen,dem Gegen­bild des lie­genden, zu. 


…Wir stehen vor ein­er Szene, wie sie intimer nicht sein kann und ers­chreck­en vor der malerischen Rigorosität


Hier wer­den nicht ein ursprüng­lich­er Zus­tand und sein Ver­lust mitein­ander kon­fron­tiert – son­dern es wird offengelegt, dass dem Leben auch und gerade in sein­en frühen Stadi­en bereits jene Ambi­val­enz zukom­mt, die sich als rät­sel­haft­es Zugleich von Begierde und Freiheit, Trieb und Schön­heit, Daseins­be­jahung und tiefer mel­an­chol­ischer Frem­d­heit ihm gegenüber, kun­d­tut. Die ungraziöse Hal­tung der "Nike" bez­ieht sich, ex neg­at­ivo, auf die in der Anti­ke und dann beson­ders in der Renais­sance entwick­el­ten, die von weib­lichen Akten ein­gen­om­men wer­den. "Nike II" kom­mun­iz­iert direk­ter mit ihnen. Die Gelös­theit des gemal­ten Körpers hat mehr als nur ein­en Anflug von Schön­heit. Wenn aber das Wis­sen dieser jugend­lichen Gestal­ten: das des Bildes sel­ber, die Par­al­lel­ität des Ver­schieden­en bein­hal­tet, so auch die des Schön­en und seines Gegen­teils. Beide begegnen sich in der unter­gründi­gen Kom­munika­tion der Bilder: "Nike" und "Nike II" sind im Grunde ein Dip­ty­chon, dessen imman­ente Seri­al­ität noch weit­er aus­gre­ift. Denn was in sich plur­al ist und die Sim­ul­tan­eität des Ambi­val­en­ten umfasst, will Meta­phern­feld­er bilden, die mit sich im Dia­log stehen. Die Inbilder der Malerei Kalaizis' sprechen mitein­ander, indem sie sich in ihren unter­schied­lichen Aus­gestal­tun­gen spiegeln.

Nike I | Öl auf Leinwand | 90 x 110 cm | 2006
Nike I | Öl auf Leinwand | 90 x 110 cm | 2006

Das Motiv des Dop­pel­gängers, das so häufig auf diesen Bildern auftaucht, drückt folg­lich ihren inner­en Impuls und nicht nur eine äußer­liche Them­atik aus. Es ent­fal­tet kom­munikat­ive Gefüge, die in den Raum und auch in die Zeit aus­gre­ifen. Die Hal­tun­gen oder Gesten der Mäd­chen­fig­ur zit­ier­en indirekt sol­che der Renais­sance und des Barock, die somit in die Bil­dober­fläche ein­tre­ten und sie in ein­en tem­porär aus­gerichteten Dehnung­s­prozess, dem Pendant des räum­lichen, der die Seri­en oder Meta­phern­feld­er stiftet, hineinziehen. 
Indem das Bild auf sich selbst, seine Fläche, zeigt, und sol­cher­maßen reflex­iv wird, weitet es sie aus: Seine Real­ität umfasst nicht nur kom­munikat­ive Bezüge zu ander­en Gefü­gen der Geg­en­wart und schein­bar weit zurück­lie­genden Epochen, son­dern teilt auch auf spezi­fis­che Weise ein entscheidendes Charak­ter­istikum der Nachmo­d­erne – was sich, in der Par­al­lel­is­ier­ung sein­er gegen­wendi­gen Struk­ture­le­mente sel­ber als Bild zu erkennen gibt, also auf seine Inhalte gerade als sol­che Ele­mente, die für sich nichts bedeu­ten, ver­weist, trans­formiert sein Dasein in ein­en vir­tuelrealen Mod­us. Real ist es, sofern es per­man­ent darauf deutet, in einem vir­tuel­len Raum zu existier­en, als Inbild oder Rät­sel­haftigkeit (was in Malerei und Lit­er­at­ur dasselbe ist) eines para­dox­en Zugleich des Ver­schieden­en. Es erfordert Konzen­tra­tion, eine äußer­ste Wach­heit des Blicks, um dieses unan­schau­liche Zugleich, die eigent­liche Kom­pos­i­tion, in den Kon­fig­ur­a­tion­en des Bildes her­vort­re­ten zu lassen. "Deaf­con" (ein unüber­set­zbarer Titel, offen­bar gebil­det aus den Best­andteilen zwei­er Sprac­hen) macht den Prozess sein­er Her­vor­brin­g­ung sel­ber zum Thema.

Der Maler steht in einem ima­ginär wirkenden Raum, dessen Wände gleich­sam von innen heraus grün leucht­en, aber nicht nur deswe­gen eher wie die Kulis­sen in einem Film wirken; rechts ist der Schat­ten seines linken Arms zu sehen, der des ander­en liegt offen­bar auf ein­er geöffneten Tür, die jedoch die Helligkeit ein­er nicht im Zim­mer befind­lichen Lichtquelle zurück­spiegelt – aber dann kann auch der auf ihr lie­gende Schat­ten nicht derjenige des Mannes sein, dessen erhoben­er Arm zudem ein­en ander­en Winkel bildet. 
Wir sehen mith­in ein Dop­pel­wesen, dessen Teile aus ver­schieden­en Eben­en stam­men: Was der Maler auf der Fläche vor sich zu erkennen trachtet, liegt ihm, das gespaltene Eigene, im Rück­en. Der Fußboden scheint den von den Wänden abgegeben­en grün­en Schim­mer zu ver­schluck­en. Nur neben den nack­ten Füßen der Gestalt in dunk­ler Hose und weißem Unter­hemd zeich­net sich sein Reflex ab – und vom Flur rechts dringt ein wenig Helligkeit herein – , sonst wirkt das Par­kett wie eine schwar­ze Masse, kein solider Unter­grund, son­dern etwas bed­roh­lich Abgründiges, in das man jederzeit ver­sinken kann.

Aris Kalaizis | Deafcon No. 1 | Öl auf Leinwand | 100 x 120 cm | 2006
Aris Kalaizis | Deafcon No. 1 | Öl auf Leinwand | 100 x 120 cm | 2006

Für den Maler wird offen­bar die Wand­fläche zu der eines ima­ginier­ten Bildes, das im Licht der von ihm gehalten­en Lampe her­vort­re­ten soll; er selbst jedoch ist schon zu dessen Fig­ur avan­ciert. Sie stellt dar, wir erin­nern uns an Kalaizis' Aus­sage, was auf der Fläche noch nicht her­vor­getre­ten ist und was das Bild in sein­en Raum transponiert. Beide kom­mun­iz­ier­en mitein­ander. Das Zim­mer der Wohnung wird dam­it zum Ort der Ima­gin­a­tion, der danach drängt, sich in ein­er Gestalt zu komprimier­en und so sicht­bar zu machen; diese ist aber der Maler sel­ber, der auf sol­che Weise den Innen­raum seines inspir­at­iven Prozesses Bild wer­den lässt. Die so intens­iv betrachtete und abge­suchte Fläche dehnt sich aus und wird zum Raum, der sich zugleich als ima­giniert­er, in vir­tueller Real­ität mith­in, zu erkennen gibt. Das eigent­lich Reale des Bildes ist sein Prozess der Vir­tu­al­is­ier­ung. Sein Thema ist die nachmo­d­erne Ver­bindung von Inspir­a­tion und Reflexivität. 


Die Her­stel­lung ihr­er Rela­tion bietet dem Betrachter ein­en Ein­blick in jen­en Prozess, der auch die Mod­elle der sich jet­zt auf­bauenden psy­cho-sozialen Gefüge der Gesell­schaft entwirft. Der nachmo­d­erne Inspir­a­tion­sraum ist gerade nicht auf seine tech­nisch-instru­mentel­len Kom­pon­en­ten zu reduzier­en, viel­mehr set­zt er auf ein­er tiefen­losen Ober­fläche para­doxe, sich schein­bar aus­schließende Gehalte in eine kom­munikat­ive Bez­iehung. Sie selbst im Zugleich ihres Ver­schieden­en sicht­bar zu machen, ist eine der wichtig­sten Aufgaben zeit­genöss­is­cher Kunst. 
Kalaizis' Bild stellt sich ihr, indem es sie in reflektiert­er Unmit­tel­barkeit zu seinem Thema macht. Mod­erne Gren­züber­s­chreit­ung war immer auf ein­en Tabubruch aus­gerichtet. Exem­plar­isch wurde das zu Beginn des zwan­zig­sten Jahrhun­derts an Expres­sion­is­mus und abstrak­ter Malerei deut­lich. Was heute jedoch Gren­züber­s­chreit­ung ist, fol­gt einem ander­en Gesetz. Selbst die Kon­front­a­tion mit dem Inzest­ver­bot, das über lange Zeit hin­weg der Eck­p­feiler der gesell­schaft­lichen Struk­tur war, hat nicht mehr die Absicht, ein Zen­trum des sozialen Ord­nungsge­füges anzu­gre­ifen und umzustürzen. 
Wer sich nun, in höch­ster Wach­heit, auf das para­doxe Zugleich das sich Aus­schließenden konzentriert, über­s­chreit­et die Gren­ze, die ihn dam­it von der sich aus der Geg­en­wart zurück­ziehenden Epoche der Mod­erne, ihren Ge- und Ver­boten, trennt. 


…als wolle sie um jeden Pre­is eine Art Gefasstheit bewahren, also das, was dem Körp­er und der Seele der Jugend­lichen in der Nacht vor diesem Mor­gen zugestoßen ist


Die Ele­mente des Wirk­lichen nicht mehr als let­zt­lich hin­gerichtet auf ein imman­ent- utopisches Ziel, die Real­is­ier­ung des Guten und Gerecht­en, wahrzun­eh­men, son­dern die gleiche Gültigkeit von Gewalt und Sehn­sucht nach Frieden, Schreck­nis, Angst und Freude, von Ziel­gerichtetheit und Ziel­losigkeit unser­er Existenz, als in sich plurale Basis des neuen Daseins anzuerkennen, bedeutet eine imman­ente Abkehr von allen eth­is­chen und ästhet­ischen Prin­zipi­en der Mod­erne. Die Gefahr, in die sich der auf "Deaf­con" darges­tell­te Maler begibt, ist nicht länger diejenige, in den ent­fes­sel­ten dionys­is­chen Ener­gi­en des Unbe­wussten unterzuge­hen; sie besteht dar­in, einem Unge­heuren ins frem­de Gesicht zu blick­en, dem näm­lich, dass diese Welt unend­lich ist und kein­en Aus­gang hat, in der schranken­losen Verknüp­fung ihr­er Gefüge eine uner­schöp­f­liche Lebendigkeit erzeugt und sie mit einem gnaden­losen Tod kon­fron­tiert, der jede Idee an Ret­tung unmög­lich macht. 
Sol­cher Para­dox­ie standzuhal­ten und sie ins Bild zu brin­g­en, ist die Aufgabe, der sich der Künst­ler zu stel­len hat. Sie ver­langt ein Höch­st­maß an Konzentration. 


Das aufwüh­lend­ste Bild der Serie ist zweifel­los "Am Mor­gen danach". Rosa- und Grüntöne domin­ier­en auf ihm und wer­den nur durch das Braun des Par­kettfußbodens ins fast Erträg­liche abgem­ildert. Ein bloß mit Unter­wäsche bekleidetes Mäd­chen sucht Schutz bei ein­er Frau, viel­leicht seine Mut­ter, die jedoch nicht ein­mal die Arme hebt und in mon­adis­cher Dis­tanz ver­har­rt. Ihr spitzes Gesicht mit den geschlossen­en Augen mün­det in ein­en leicht vorgeschoben­en Mund und ein knochiges Kinn, ein Strang der Back­en­partie der deut­lich­er akzen­tu­ier­ten recht­en Gesicht­shälfte tritt her­vor, wodurch sich die Falte zwis­chen dem Mund­winkel und der Backe tiefer ein­gräbt: deut­liche Anzeichen, dass die dis­tan­zierte Hal­tung entweder Kraft kostet oder so tief ver­in­ner­licht ist, dass sie das Gesicht zur Maske formt. 
Dasjenige des Mäd­chens erin­nert an "Nike II". Es wirkt ver­schlossen, als wolle es um jeden Pre­is eine Art Gefasstheit bewahren, also das, was dem Körp­er und der Seele der Jugend­lichen in der Nacht vor diesem Mor­gen zugestoßen ist, sich nicht aus­s­prechen lassen.

Aris Kalaizis | Am Morgen danach | Öl auf Leinwand | 150 x 180 cm | 2006
Aris Kalaizis | Am Morgen danach | Öl auf Leinwand | 150 x 180 cm | 2006

Vor diesem Paar kniet ein Mann im braunen Sakko, das Hemd von der gleichen Farbe wie die Unter­wäsche des Kindes, das viel­leicht seins ist. Nicht nur die starken Augen­brauen und der nach unten gebo­gene Schnur­rbart, vor allem der Blick, der sich mit entset­zter Fasz­in­a­tion auf seine Hände richtet, ver­lei­ht ihm etwas Diab­ol­isches. Man ver­meint, den Täter zu sehen, der sich an der eigen­en Tochter ver­gan­gen hat. Von rechts fällt durch eine geöffnete Tür eine selt­same, dop­pelte oder gekreuzte, Licht­bahn auf diese Szene, in der in äußer­ster Schroff­heit eine intens­ive Stim­mung des Kal­ten und Leblosen auf eine ebensol­che fleis­ch­lich – intimer Wärme trifft. Wieder befind­en wir uns in einem Innen­raum und sehen direkt auf das offengelegte seel­is­che Gewebe sein­er Per­son­en. Es scheint, als gip­fele hier, in schonungsloser Obszön­ität, der Zugriff des Malers auf sein ihm als Mod­ell dien­endes Kind.


Kala­izis stellt die eigene Fam­ilie in eine inzes­tuöse Situ­ation und schickt sich augenschein­lich an, dasjenige Tabu, das aus dem Unter­gang der Mod­erne sog­ar gestärkt her­vorgegan­gen ist, und das unsere Gesell­schaft vor dem Kindes­miss­brauch aufgerichtet hat, künst­lerisch zu funk­tion­al­is­ier­en. Gelänge es nicht, die gerade skiz­zierte Inter­pret­a­tion sein­er Bilder auch auf dieses anzuwenden, behaup­tete sich seine gegen­ständ­liche Them­atik gegenüber der inner­en Inten­tion, die sie zu integ­ri­er­en trachtet, so hätte sich der Ver­such, Kalaizis' Arbeit als Schaf­fung von Inbildern der Nachmo­d­erne zu dech­if­fri­er­en, als ver­fehlt erwiesen.
Es gibt jedoch Ind­iz­ien, die darauf hin­weis­en, dass das Inzestthema wieder- um ein anderes gleich­sam aus sich her­vorge­hen lässt. Die Hände, die der Mann betrachtet, gehören einem Maler: Sie sind es, die das Bild, auf dem sie zu sehen sind, geschaf­fen haben. Das Lichtkreuz auf dem Boden deutet unwei­ger­lich auf eine lange Tra­di­tion, in der die Pas­sion des Gekreuzigten und die andere des Künst­lers par­al­lel­is­iert wer­den. Der Täter, der sein Kind zu seinem Mod­ell macht – die Mut­ter, der das gleiche Schick­sal wider­fuhr, kann ihm nicht helfen – , ist zugleich der unter der eigen­en Schuld Leidende, die doch die Voraus­set­zung seines Werks ist. 


…in dem die Rät­sel­haftigkeit des Lebens sich sel­ber malt


Das Schreck­liche und ineins dam­it Faszini­er­ende, das dar­in liegt, ein sol­ches Werk zu produzier­en, drückt sich in ein­er Meta­ph­er aus, die zwangsläufig den Kern nachmo­d­ern­er Tabuis­ier­ungen umfasst. Indem der Künst­ler zur Per­son­i­fika­tion des Schlimmsten wird, das sich die Geg­en­warts­gesell­schaft in ihr­er Ein­bildung­skraft aus­zu­malen ver­mag, gelangt er in die Zone äußer­ster Gefahr und set­zt sich ihr aus. So kön­nte also die Fig­ur der Inspir­a­tion im in sich para­dox­en Heute aus­se­hen. Sie kom­bin­iert das Gegensätz­lich­ste und stiftet den Raum ein­er Fläche, in dem die Rät­sel­haftigkeit des Lebens sich sel­ber malt und dar­in über sich nachdenkt. 
Erscheint eine sol­che Par­al­lels­itu­ation, begegnen sich intens­ivste Freude, Schön­heit und der Schreck­en angesichts des größten zu ima­gini­er­enden Tabubruchs – ihre Kon­stel­la­tion wird zur Kom­pos­i­tion, zum Aus­druck der meta­phys­is­chen (gar nicht onto­lo­gis­chen) Wahrheit des ein­un­dzwan­zig­sten Jahrhun­derts. (Zus­atz. Betrachtet man die Tür noch ein­mal, fällt die Metall­stange auf, sow­ie die Einker­bung am unter­en Rand, der zudem ein Stück weit über dem Boden schwebt. Kala­izis gibt die Aufklärung, dass es sich um ein­en Kühls­chrank handle – offensicht­lich eines jen­er in Amerika gebräuch­lichen großen Exem­plare – , in dem etwas ver­bor­gen sei; die Tochter scheine zu wis­sen, was, die Mut­ter ahne die Tat. "Aber es gibt kein­en Hin­weis auf ein mor­gen, kein mor­gend­liches Licht und kein Erwachen und somit leider auch keine Aufklärung…"


Dieser Hin­weis deutet auf eine andere, wenn auch ver­wandte, Bil­dreal­ität. Beide können durchaus koex­istier­en, und weder die des Inter­preten, noch auch die des Malers muss beans­pruchen, die jew­eils andere zu ver­drän­gen.) Der Raum der Inspir­a­tion ist der vir­tu­al­is­ierte. Die Meta­phern der Wahrheit, die in der Renais­sancekunst als Schein des Schön­en ges­tiftet wur­den und in der Mod­erne als ents­tell­te, in der­en Häss­lich­keit sich die Sehn­sucht nach ihr­em Gegen­teil konzentrierte, über­lebten, wur­den ein­er weit­er­en Meta­morph­ose unterzo­gen. Die sicht­bare Schön­heit war nach Marsilio Ficino, dem großen neu­pla­ton­is­chen Philo­sophen des fün­fzehnten Jahrhun­derts, die Erschein­ungs- weise der unsicht­bar­en göttlichen. 


Die Sehn­sucht, die sich auf jene richtete, meinte eigent­lich, selbst ohne es zu wis­sen, diese. Der erot­ische Trieb, angestachelt durch die Verkörper­ungen des Ideals, belebte und steigerte sich zur Suche nach der­en Ursprung. Was man ein­mal Muse nan­nte, war mith­in das Bild ein­er Ink­arna­tion, die das inspir­at­ive Ver­mö­gen des Künst­lers auf sein Zen­trum len­kte. Gibt es diesen Zusam­men­hang noch, der sich in allen Trans­form­a­tion­en, auch den­en, die das zwan­zig­ste Jahrhun­dert vor­nahm, erhal­ten hat, oder hat er sich so grundle­gend umgestal­tet, dass man nicht mehr nur dav­on reden kann, er habe, wie radikal immer, seine Gestalt geändert?


"Psemata": Eine unbekleidete Frau sitzt vor einem Spiegel und betrachtet sich. Nein, das ist falsch. Bei genauer­em Hin­sehen wird klar, dass wir ein gestaffeltes Bild vor uns haben. Das erste zeigt ein anderes, der Spiegel ent­puppt sich als ein wei­t­eres, denn das Arrange­ment der ova­len, Kopf und Oberkörp­er der Frau umgebenden Fläche und des geöffneten Fen­sters kann eigent­lich, so meint man, nicht den Vorder­grund des Raums wiedergeben, in dem sich der Rück­enakt befindet.


Bild oder Spiegel – oder beides? Wer sich diese Frage stellt, ver­steht im sel­ben Moment schon, dass der Unter­schied nur ein schein­barer ist; auch der Spiegel ist gemalt. Arm und Hand der Nack­ten streck­en sich nach ein­er Emailleschüs­sel aus, als ob sie sich waschen wolle; aber in der Schüs­sel, durch der­en Wand man doch nicht blick­en kann, scheint Sand zu sein. Psemata bedeutet, sagt Kala­izis, "soviel wie: Lüge, nicht der Wahrheit ents­prechend …" – das Bild ist nicht und ist eben deswe­gen, was es zeigt. Es ist näm­lich das Vor­weis­en der Aus­sage, die es aus­macht: Bild und noch ein­mal Bild zu sein, also die inten­tion­al auf sich selbst gerichtete Reflexionstätigkeit. 


…ich nehme ein­en sol­chen Wirk­lich­keits­bezug wieder in mich auf und integ­ri­ere ihn in mein Sein


Ich bin, sagt es, nichts, was auf eine gegen­ständ­liche Wirk­lich­keit ver­weist, oder viel­mehr, ich nehme ein­en sol­chen Wirk­lich­keits­bezug wieder in mich auf und integ­ri­ere ihn in mein Sein, das Erschein­ung ist. Der nackte, sich dem Betrachter zugleich dar­bi­etende und ver­wei­gernde, weil sich vir­tu­al­is­i­er­ende Körp­er zeigt uns in bild­hafter Spiegel­ung sein Gesicht, das uns – nein, zun­ächst nicht uns, son­dern den­jeni­gen, der es malt, ansieht mit einem Blick aufmerksam-eindring­lich­er Skep­sis. Die darges­tell­te Gestalt fragt ihren Schöp­fer, mit­tels welch­er Prozed­ur er sie inszen­iert. Sie gibt sich dazu her und behält etwas von sich zurück, wie auch Kala­izis in ander­em Zusam­men­hang von sich sagt: "Sich nie ganz pre­is­geben, immer etwas zurück­be­hal­ten, eine Kraft" (Gespräch, 1997).


Für eine sol­che Ein­heit von Pre­is­gabe und Ver­wei­ger­ung steht auf den älter­en Arbeiten die schwarz gekleidete Frau, die sich eine eben­falls schwar­ze Tasche vor den Unter­leib und dam­it den Bereich des Geschlechts hält. Hier jedoch, auf dem neuer­en Bild, kom­mt eine weit­ere Kom­pon­ente hin­zu, die das frühere Schema auf­spren­gt. Nicht nur das Mod­ell, das Bild sel­ber, ja, sein Inbild, befragt den, der es her­vor­bringt, nach sein­er Existen­zfor­um – der Maler, der auf "Deaf­con" so intens­iv die Wand betrachtet, fände in diesem Blick die Aufklärung, nach der er sucht. Hielte er ihm stand, und genau dar­in besteht seine Aufgabe, so käme es zu ein­er Kom­munika­tion zwis­chen der Inspir­a­tion und ihr­em inner­en Gegen­stand, wie sie intens­iver nicht sein könnte. 


Dieser fordert jene auf, sich ihm zu über­lassen; der Maler würde dam­it zum Werkzeug seines zu schaf­fenden Bildes. Dessen gegensätz­liche Ele­mente: der Trieb zur Hingabe und der andere zur Versagung, ver­lan­gen nach derjeni­gen kreat­iven Wach­heit, die ihnen beiden zum Aus­druck ver­hil­ft. Dis­tanz und Nähe heben sich in ihm nicht auf, son­dern tre­ten in eine Span­nungs­bez­iehung. Und nun ist es, als ob die gemal­ten Augen in ihr­er Skep­sis die Wach­heit spiegeln, der­er sie bedür­fen. Kann sich die Dis­tanz sel­ber so nackt und bloß zei­gen, wie die Nähe, so wer­den beide, ohne in irgendein­er Weise zu ver­schmelzen, zum Zeichen ein­er let­zten Intimität. 
In ihr­em Gefühls­raum gibt das Dasein seine Liebe zu uns und seine unauf­hebbare Frem­d­heit zu erkennen. Die eine wie die andere schauen uns aus dem Bild heraus an; dieses begre­ifend, wird uns der nackte Körp­er, seine von einem kruden und doch auch war­men gel­ben Licht wider­schein­ende Haut, mit ihren angedeuteten Knochen und Sehnen, so- wie den Spuren der viel­leicht von Kleidungsstück­en stam­menden Strie­men, zur Erschein­ung nachmo­d­ern­er Schönheit. 


…Ein­heit von Pre­is­gabe und Verweigerung


Sie ist nicht auf ein exter­rit­oriales Zen­trum bezo­gen, son­dern ganz gegen­wärtig, und dar­in ebenso real wie vir­tuell-reflex­iv. Das eine Moment intens­iviert das andere, obgleich es keine Har­monie zwis­chen ihnen gibt. Es gibt also wie­der­um eine Mög­lich­keit der inti­men Begegnung mit dem Sein sel­ber. In ihr zieht es sich zur Erfahrung des Schön­en und der par­al­lelen von Ents­tel­lung und Ver­nich­tung zusammen. 


Kalaizis' Malerei gewährt uns ein­en Zugang zu beiden, indem sie ihre Bil­dober­fläche sich zu ein­er Zwis­chenschicht dehnen lässt, dem ima­ginären Raum der Inspir­a­tion, aus dem die Kon­fig­ur­a­tion­en und Gestal­ten der nachmo­d­ernen Welt, in der wir leben, auftauchen. 
Keine Kunst kann heute noch, wie in der Epoche der Renais­sance, die Chif­fren des Schön­en unmit­tel­bar darstel­len. Aber auch der im let­zten Jahrhun­dert unter­nom­mene Ver­such, im schonungslosen Aus­druck der Ents­tel­lungen, die ihm im geschicht­lichen Prozess wider­fahren sind, den utopis­chen Impuls zu sein­er Regen­er­a­tion über­dauern zu lassen, kann nicht mehr fort­ge­set­zt wer­den. Das von ihm anvis­ierte Ziel hat seine unableg­bar­en total­itären Poten­ziale offen­bart; dies ist der eigent­liche Grund, weshalb jen­er Impuls nicht mehr trägt. Somit stellt sich die Aufgabe, dem Schön­en im Dasein und in der Kunst (beides bedingt sich) ein­en neuen Ort zu schaf­fen – den aber, den es sich sel­ber aus­sucht – , unter grundle­gend ver­änder­ten Bedin­gun­gen. Die Malerei von Aris Kala­izis ist nicht mehr nur auf der Suche nach ihm, son­dern hat ihn bereits ent­deckt und ist nun dabei, ihn mit den para­dox­en Gehal­ten, nach den­en er ver­langt, zu bevölkern.


Quelle: Philo­sophia-Online)


©2007 Max Loren­zen | Aris Kalaizis

Max-Otto Loren­zen, geb. 1950, Philo­soph und Schrift­s­teller, ist Begründer des Mar­bur­ger For­ums. Er ver­öf­fent­lichte u.a. 'Das Schwarze': Eine The­or­ie des Bösen in der Nachmo­d­erne. Eine Idee der Aufklärung sow­ie 'Krankkeit.Kälte.Unsterblichkeit': Drei nachmo­d­erne Erzählun­gen. Zulet­zt arbeitete er an ein­er 'Philosophie der Nachmoderne'. Max Loren­zen ver­starb 2008 in Marburg.

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