Aris Kalaizis

Aris Kalaizis: "Das Martyrium des Hl. Bartholomäus oder das doppelte Martyrium"

In diesem Text bes­chreibt der deutsch-amerik­an­is­che Autor Paul-Henri Camp­bell die Wirkungs­geschicht des Hl. Bartho­lomäus am Beis­piel von Aris Kala­izis groß­form­ati­gen Gemälde. Darüber hinaus unter­sucht er den Impetus des Reli­giösen inner­halb der Leipzi­ger Schule.

Aris Kalaizis, Das Martyrium des Hl. Bartholomäus oder das doppelte Martyrium | Öl auf Lw. | 250 x 285 cm | 2014/15
Aris Kalaizis, Das Martyrium des Hl. Bartholomäus oder das doppelte Martyrium | Öl auf Lw. | 250 x 285 cm | 2014/15

Im Janu­ar 2015 stell­te der Leipzi­ger Maler griech­is­cher Herkun­ft Aris Kala­izis eine groß­form­atige Ölmalerei zum Mar­tyri­um des hl. Bartho­lomäus fer­tig. Dieses Gemälde entstand in Aus­ein­ander­set­zung mit der reichen Verehrungs­geschichte des Hei­li­gen im Frank­furter Kais­er­dom sow­ie mit den zahlreichen malerischen und plas­tischen Darstel­lungen, die seit der Gründung des Stifts der Legende Form und Gestalt verleihen.
Das Gemälde »Das Mar­tyri­um des Hl. Bartho­lomäus oder das dop­pelte Mar­tyri­um« von Aris Kala­izis, das zun­ächst ab dem 10. Feb­ru­ar 2015 bis Ostern 2015 in ein­er Ein­zel­b­ild­schau im Dom­mu­seum Frank­furt am Main zu sehen war, ist nun an der West­wand des süd­lichen Seitenschiffs des Doms ange­b­racht, wo es bis zum Hoch­fest des Kirchen- und Stadtpat­rons bleiben wird.


Die Behand­lung der Legende durch Aris Kala­izis ist auf mehr­er­en Eben­en bemerkenswert: Erst­mals befasst sich mit ihm nun ein Ver­treter der ›Neuen Leipzi­ger Schule‹ mit einem Frank­furter Sakral­bau; das Gemälde ver­bind­et Hagi­o­graph­ie mit der neuer­en Zeit­geschichte, wie etwa der Büch­er­ver­bren­nung auf dem zum Dom angren­zenden Römer­berg 1933; schließ­lich rückt das Gemälde die pas­sion­s­theo­lo­gis­che Dimen­sion des Mar­tyri­ums in den Vorder­grund im Unter­scheid zu den meisten ander­en Bild­n­is­sen, die sich in und um den Frank­furter St. Bartho­lomäus Dom befind­en, wie wir noch sehen werden.


Aris Kala­izis, Reli­gion und die ›Neue Leipzi­ger Schule‹


Als unmit­tel­bar nach der Wende eine junge Maler-Gen­er­a­tion im Umkre­is der Hoch­schule für Grafik und Buch­kunst in Leipzig empor­strebte, blickte das Pub­likum der ›alten‹ Leipzi­ger Schule bereits auf zahlreiche Bild­n­isse mit ›reli­giösen‹ Motiven und The­men. Beis­piele hier­für sind etwa das monu­mentale ›Bauernkriegspan­or­ama‹ in Bad Franken­hausen (1976−1987) von Wern­er Tüb­ke und sein ›Zeller­feld­er Altar‹ (1997) oder Bernhard Heis­igs ›Neues vom Turmbau‹ (1977) oder Arno Rinks › Itali­en­is­che Begegnung‹ (1978).
Die teils ideo­lo­gisch, teils existen­zi­ell motivierte Beschäf­ti­gung mit Reli­gion im athe­istischen Arbeit­er- und Bauern­staat der DDR ist von beson­der­em Interesse, da sich sowohl bewusste Polemik als auch unbe­wusste Sehn­sucht mit ein­er intellektuel­len Reli­gions- und Regimekritik ver­ein­en, wie sie sonst nir­gends im deutschs­prac­hi­gen Raum aufzufind­en war und ist.
Obgleich die ältere Gen­er­a­tion der Leipzi­ger Schule ohne christ­liches Bek­en­nt­nis lebte, dieses aus welchen Gründen auch immer viel­leicht auch ablehnte, und obschon eben­falls die meist in den 1960er Jahren geboren­en Ver­treter der ›Neuen Leipzi­ger Schule‹ wie Neo Rauch, Michael Triegel, Bruno Gries­el oder Aris Kala­izis athe­istisch sozi­al­is­iert worden, sind diese Maler in ihr­em künst­lerischen Instinkt alles andere als unre­li­giös zu bezeichnen. 
Sie hat­ten von den Alten Meistern gel­ernt, sie imit­iert, sich an ihnen geübt, obwohl zeit­gleich in den 1990er-Jahren unter dem Ein­fluss der west­deutschen Kunst-Tra­di­tion­en alles Figür­liche, alles Alt­meister­liche mit hoch­müti­ger Ironie bedacht worden war und das Pub­likum sogenan­nte ›abstrakte‹ Kunst favor­is­ierte, um mit ihr in einem unter­kühl­ten Zyn­is­mus zu versinken.


Es ist not­wendig zu begre­ifen, dass die jun­gen Maler aus Leipzig hinge­gen kein­en Wider­spruch zwis­chen dem Alten und dem Neuen erblick­ten, son­dern ein­en Bruch sahen, über den sie wie Frem­de oder Hin­zu­gelaufene staunten. Gewiss die ›Neue Leipzi­ger Schule‹ ist auch geprägt von einem Streben nach tech­nis­cher Per­fek­tion, Per­spekt­iv­raum und figür­lich­er Darstel­lung. Aber so sehr sich die alt­meister­liche Bril­lanz eines Dürers, Velázquez', El Gre­cos oder Rib­er­as in ihren Bildern äußert, so sehr soll­te man beden­ken, dass Maler wie Aris Kala­izis mit dieser geschicht­lichen und ideel­len Ver­schiebung, welche sich im 20. Jh. in der Malerei ganz entschieden vollzieht, produkt­iv umgehen. 
Anders als im 19. Jh. etwa die Präraf­fael­iten in Eng­land oder die naz­aren­is­chen Künst­ler in Öster­reich, zelebri­er­en die Leipzi­ger Maler der Geg­en­wart ihre stil­istischen Anlei­hen nicht im Sinne eines anti­mod­ern­istischen Protests oder ein­er Resti­tu­tion des Gestri­gen, son­dern als produkt­ive Urbar­machung der Ver­gan­gen­heit für die Zukun­ft. Dah­er ist ihre Sehn­sucht ohne Nos­tal­gie, dah­er ist ihre unge­heure Mod­ern­ität nicht bit­ter durch trotzige Revolte, son­dern reich an produkt­iver Vision.
Aris Kala­izis nim­mt eine beson­dere Pos­i­tion ein inner­halb der ›Neuen Leipzi­ger Schule‹. Im Gegensatz zu sein­en deutschen Kolle­gen wächst er als Sohn griech­is­cher Immig­ranten in Leipzig auf, wo er 1966 geboren worden ist. Sein Weg zur Malerei war lang; und es war ein unwahr­schein­lich­er Weg. Vater und Mut­ter gehören zu den 10.000den Kindern, die nach dem griech­is­chen Bür­gerkrieg von ihren Eltern getrennt und in die sowjet­ischen Zon­en ver­bracht worden sind. Die Eltern arbeiteten in der graph­is­chen Indus­trie in Leipzig. Die Ver­schiebung sein­er Per­spekt­ive begin­nt schon hier.


…was ist Sottorealismus?


Es ist nicht zu unter­schätzen, was es bedeutet als Migrant in der homo­gen­en Gesell­schaft der ehem­a­li­gen DDR aufzuwach­sen. Ein Ander­er zu sein – anders zu sein, weil der wahre Ursprung dort ist, wo Apollo mit Dionysus streit­et, wo zwis­chen den Zypressen- und Oleander­hain­en immer ein Pan forthuscht und an jeder Quelle eine andere Nymphe mit den Augen zwinkert. Seine Bio­graph­ie lässt sich kaum erzäh­len. Sie wird wie erfun­den sein, wenn sie niederges­chrieben ist. Wir wer­den ein­mal von einem Jun­gen hören, der in den frühen 70er Jahren am Stadtrand von Leipzig Fußball spielt, beim Ansturm aufs Tor plötz­lich stehen blieb, den Ball ein­fach wei­t­er­rol­len lässt, weil er so über­wältigt ist von irgen­det­was, das sich sein­en Augen darbietet.
Die Real­ität, in der Aris Kala­izis aufwächst, wo er zun­ächst eine Lehre zum Off­set­druck­er macht, wo ihm sein Vater aus dürfti­gem Holz die erste Staffelei baut und zur Weih­nacht schen­kt, die Real­ität wo seine Mut­ter den Duft von frem­den Gewürzen hat, während die ander­en Kinder säch­s­is­che und thüringis­che Spezi­al­itäten essen müssen … diese Real­ität unter­scheidet sich wesent­lich von ein­er durch­schnit­t­lichen DDR-Sozialisation.
Und es wun­dert ein­en dann plötz­lich nicht mehr, wenn in dieser ver­gan­gen­en Welt, wo die meisten Menschen in ihren anständi­gen, recht­en Winkel und verzo­gen­en Rah­men leben, dass dort nun nach dem Fall der Mauer Aris Kala­izis sich entschließt, fort­an seine Rah­men selbst zu spannen, die Größe sein­er Rah­men selbst zu wäh­len, ein Werk zu schaf­fen, das an die Auto­nomie und Vieldeut­igkeit des Augenschein­lichen appelliert. 
Und so geht er hin und häm­mert an den Toren der ber­üh­mten Hoch­schule für Graph­ik und Buch­kunst in Leipzig. Man lässt ihn ein­tre­ten. Dort wird er zum Meister­schüler von Arno Rink. Von da an wird er ein Eigen­wil­li­ger, ein Solitär. Diese Geschichte ist kein Märchen. Sie ist wirk­lich. Aber sie muss so erzählt wer­den wie ein Märchen, weil man begre­ifen muss, dass hier ein Wille vor uns tritt der jedes Hindernis, jede Müh­sal kan­nte auf seinem Weg zur Meisterschaft.


…Es ist eine Art Meta­physik, die das Dies­seits liebt und diese nie voll­ständig umfan­gen mag


Und es war eine amerik­an­is­che Kun­sthis­toriker­in aus New York, Car­ol Strick­land, die erkan­nte, dass wir neue Kat­egori­en brauchen wer­den, um uns dem Werk von Aris Kala­izis zu nähern. Sie prägt den Begriff ›Sot­toreal­is­mus‹, um jene Anschauung zu bes­chreiben, die sich hier bild­lich Raum schafft. Was ist Sot­toreal­is­mus? Den­ken wir an ›sotto voce‹ in der Musik: also das san­fte, flüsternde Sprechen. Sotto voce: Die Moz­art-Parti­t­uren sind ganz voll dav­on. Sot­toreal­is­mus, das ist das Raunen unter und über dem Realen. Dis­son­anz. Flim­mern. Es ist eine Art Meta­physik, die das Dies­seits liebt und diese nie voll­ständig umfan­gen mag. Und doch plant der Sot­toreal­ist Aris Kala­izis seine Bilder exakt, lange Zeit hin wer­den sie vorüber­legt. Er sucht nach Leere, innere und äußere Leere. Er malt nur etwa sechs oder sieben Bilder im Jahr. Er gedul­det sich lange mit sein­en Ein­fäl­len. Zu vielen sein­er Bilder entstehen zun­ächst umfan­greiche Mod­elle im Atelier oder in der freien Natur wie bei diesem Bild. Sol­che Mod­elle sind mit dem Labor des Chemikers ver­gleich­bar. Sie sind exper­i­mentelle Phasen, dar­in der Maler zun­ächst prüft und erwägt, ob sein Inbild, seine innere Empfind­ung trägt, ob das Inbild stark genug ist, ein Gemälde zu sein.


St. Bartho­lomäus im Kais­er­dom – Best­and und Neuentdeckung


Im Janu­ar 2014 eröffnete das Dom­mu­seum Frank­furt am Main bereits eine Ein­zelschau von vier Gemälden von Aris Kala­izis, in der sich u.a. das Gemälde ›Make/​Believe‹ (2009) und ›Das Sch­wei­gen des Waldes‹ (2010) befanden. Schon im Rah­men dieser Aus­s­tel­lung war der Künst­ler von den zahlreichen Darstel­lungen des Kirchen­pat­rons in und um den Dom fasziniert und begann sich mit dem Apostel zu beschäftigen.
Kala­izis beschäftigt sich aber weni­ger mit den vielfälti­gen, auch sich ein­ander wider­sprechenden Quel­len, die schrift­liche Berichte von Mis­sion­arstätigkeit des Mär­tyrers in Indi­en und Armeni­en mit­teilen. Viel­mehr set­zt er sich intens­iv mit dem lokalen Best­and an Schmiedearbeiten und Bild­hauereien, mit den Fresken und Malereien aus­ein­ander in jenem Gebäude in Frank­furt am Main, das dem Hei­li­gen gewei­ht ist.
Frei­lich ist der Künst­ler ver­traut mit den bib­lis­chen Zeugn­is­sen bei den Evan­gel­isten Mat­thäus (10,3), Markus (3,18), Lukas (6,14) sow­ie der Apostel­geschichte (1,13). Ihm ist bekan­nt, dass die Evan­gel­isten Bartho­lomäus sowohl ara­mäisch Bar Tholmai (Sohn des Tholmai, Sohn des Furchen­ziehers) als auch als Nath­an­ael (Ges­chenk Gottes) heißen; er ahnt, wie weitläufig die Reise des Mis­sion­ars gewesen sein soll, die schließ­lich zu sein­er Schindung und Hin­rich­tung führte: nach Indi­en, ins Gebiet der Meder und Pers­er, nach Syr­i­en, nach Ger­mani­en, ins Land der Parther und sog­ar nach Armeni­en ging sie angeblich.

Aris Kalaizis, Detail: Das Schweigen des Waldes (2010)
Aris Kalaizis, Detail: Das Schweigen des Waldes (2010)

Die pop­uläre Über­liefer­ung in der Sammlung ›Legenda aurea‹, ken­nt Aris Kala­izis, dar­in der Domin­ik­an­er Jac­o­bus de Vor­agine (1230−1298) Hei­li­gen­le­genden zusam­men­stell­te. Die ›Goldene Legende‹ ist seit dem Mit­telal­ter für die abendländis­che Kunst am ein­flussreich­sten. Auch diese berichtet von einem Pre­di­ger, der gegen die Anbe­tung der Götzen­bilder wet­tert und angeb­lich die Tochter eines heidnis­chen Königs von bösen Geistern befreit; sie berichtet eben­falls von der Enthäu­tung bei lebendi­gem Leib auf Befehl ein­er lokalen Elite. Aber nicht nur dav­on. Wenn auch diese vornehm­lich per­sis­che Art der Strafe für den Ver­ur­teil­ten endgültig ist, stellt sie nicht die ein­zige Schil­der­ung vom Mar­tyri­um dar: von ein­er Kreuzi­gung mit Kopf nach unten, von der Versen­kung im Meer, von ein­er Enthaup­tung ist die Rede. Begin­nt man die Quel­len krit­isch zu ver­gleichen, so eröffnet sich – wie in der christ­lichen Hagi­o­graph­ie üblich – ein weites Feld an Wider­sprüchen, das manche auch fre­und­lich als Vari­anten­reichtum bezeichnen.


Die Frank­furter Fröm­mig­keits­geschichte in Bezug auf den Apostel Bartho­lomäus begin­nt spä­testens mit der Über­führung der Reliquie, die aus einem großen kalotten­artig gewöl­b­ten Stück des Schädels besteht (12 cm lang, 7 cm breit). Ein 1215 entstandenes Siegel an ein­er Stift­surkunde bil­det eines der frühesten Zeugn­isse hier­für, obschon ein­ige Kirchen­his­toriker an eine Trans­fer­i­er­ung der Reliquie von S. Bar­to­lomeo auf der römis­chen Tiber­insel an den Main bereits um Mitte des 12. Jahrhun­derts glauben. 
Zwei Reliquiare befind­en sich im Dom­mu­seum, die zur Auf­be­wahrung und Präsent­a­tion des Knochen­frag­ments ange­fer­tigt worden sind. Zun­ächst ist da die sil­berne Reliquien­büste des hl. Bartho­lomäus, die um 1727 in der Werkstatt des Augs­bur­ger Gold­schmieds Franz Ignaz Berdold entstand. Sie besitzt ein front­al aus­gerichtetes Haupt mit schul­ter­langem gelock­tem Haar und ein bärtiges Gesicht von asket­ischem Charak­ter. Sein Hals und Brustkorb sind muskulös und plas­tisch durchgearbeitet; Ein Tuch beg­leitet die Gestalt, welches über die Schul­tern gelegt ist und der Büste eine ruhige, geschlossene Kon­tur ver­lei­ht. Das sogenan­nte redende Reliquiar (weil es in sein­er Form auf die Reliquie hin­weist) dram­at­is­iert die Vor­stel­lung des schön­en Leibes, der im Kon­trast zur Mal­trätier­ung durch die Scher­gen steht. Die Drapier­ung sow­ie die Büsten-Form erin­nert an die Her­oen oder Göt­ter der anti­ken Kunst. Das zweite, jüngere Reliquiar sodann schuf der Frank­furter Gold­schmied Karl Bor­romäus Ber­thold im Jahre 1929 aus ver­gol­de­tem Sil­ber mit Schmuck­stein­en. Im Zusam­men­hang mit der Erneuer­ung des Kun­sthandwerks in den 1920er-Jahren steht der auf einem getreppten Sock­el befind­liche Schrein, der eine Kreuzung expres­sion­istischer Kunst und Remin­iszen­zen der Neugotik darstellt. Drei pfeiler­artige Ber­gkristalle beset­zen die Stufen des Giebels beidseit­ig und bilden so eine dreieckige Kapsel zur Auf­be­wahrung der Reliquie, worüber ein eben­falls aus Ber­gkristall geschlif­fenes Kreuz thront. Eine viel­strah­lige Man­dorla steht über dem Schrein. Die Ums­chrift am Sock­el heißt: »SANC­TE + BAR­TO­LO­MAEE / PAT­RONE + ET / PRO­TECT­OR + NOS­TER / ORA PRO NOBIS«. Beide Reliquiare stel­len in ihr­er künst­lerischen Bearbei­tung also den Aspekt der Hei­ligkeit in den Vordergrund.


…von ein­er Kreuzi­gung mit Kopf nach unten, von der Versen­kung im Meer, von ein­er Enthaup­tung ist die Rede


Die über­wälti­gende Zahl der 33 Darstel­lungen des Hei­li­gen ver­fol­gt diese Linie. Die große Turmmon­stranz des Stifts St. Bartho­lomäus (um 1498), die im Dom­mu­seum aus­ges­tellt wird, ver­fügt über eine kleine Sil­ber­fig­ur des Apos­tels, die ihn mit einem großen Mess­er – also dem Instru­ment sein­er Schindung – in der recht­en Hand darstellt. Die nim­bierte Fig­ur fasst in der ander­en Hand ein Buch und ist offen­bar über seine welt­liche Demü­ti­gung erhaben. Weit­er­hin zeigt ein quer­rechteckiges Pec­tor­ale, also eine geschmiedete Schließe für ein­en Chor­man­tel, den aufrecht stehenden Hei­li­gen zwis­chen den hll. Johannes der Täufer und Mar­garete (je mit Attrib­uten). Auch diese bar­füßige Fig­ur zeich­net ein erhabenes Bild: Sein Man­tel­um­hang über dem lan­gen Gewand ist vor dem Leib vielfältig drapiert; mit der angewinkel­ten, leicht aus­ges­tell­ten Recht­en zeigt er das Mess­er vor, über dem Unter­arm der angewinkel­ten Linken hängt schwun­g­voll die Haut.


Beson­ders diese Form des Hei­li­gen, die ihn mit sein­er eigen­en Haut lässig über den angewinkel­ten Arm drapiert zeigt, wieder­holt sich nun im ges­amten Kirchenge­bäude z.B. in der Eichen­holz­schnitzerei des Chorgestühls (um 1352), der far­big gefassten Sand­stein­fig­ur an der Nord­wand des Hoch­chors (um 1440) oder einem Schlussstein im west­lichen Gewölbe der Wahlkapelle (um1425-1438). Auch viele Stücke aus der Altar-Sammlung Mün­zen­ber­ger, womit ein Großteil der Innenaus­stat­tung des Domes seit Ende des 19. Jh. bestrit­ten wird, neh­men diese Form auf: z.B. die Relief­fig­ur am linken Flü­gel des Herz-Jesu-Altars an der Ost­wand des Nordquer­hauses (Mem­min­gen, datiert 1505) oder die Skulp­tur im Gespren­ge des Lieb­frauen­al­tars an der Ost­wand des Südquer­hauses (Schwaben, um 1500).


In erster Linie aber ist es das Bartho­lomäus Fries, welches sich an der Süd- und Nord­wand des Chores entlang­zieht, das die ruh­m­reiche Hei­ligkeit des Mär­tyrers zur Darstel­lung brin­g­en soll. Das Fries erzählt in 28 Szen­en das Wirken und Ster­ben des Hei­li­gen. St. Bartho­lomäus erken­nt man am lan­gen weißen Gewand, in welches die mit­telal­ter­liche Vita der ›Legenda aurea‹ eingekleidet hatte. Diese im 1. Drit­tel des 15. Jahrhun­derts ges­tiftete Sec­co­malerei in Tem­per­a­farben schlägt eine erzählerische Brücke von der Aus­sendung der Apostel bis hin zur Weihe eines bekehrten Heiden zum Bis­chof. Sie han­delt also vom Ursprung der Kirche in der kom­promisslosen Nachfolge, set­zt aber diese Nachfolge auch schon als gegeben voraus.
Eine altern­at­ive Akzen­tu­ier­ung fin­d­et sich hinge­gen in Oswald Onghers Ölgemälde ›Marter des Hl. Bartho­lomäus‹ (datiert 1670), das sich heute an der West­wand des nörd­lichen Seitenschiffes befin­d­et. Der die Bild­mitte ein­nehmende, nur mit einem Lenden­tuch bekleidete Bartho­lomäus lehnt ermat­tet mit dem Rück­en an ein­en Baum, an den ihn wohl ein Scherge fes­selte. Rechts daneben steht, das Mess­er quer im Mund hal­tend, ein zweit­er Scherge. Dieser zieht Bartho­lomäus die Haut ab. An beiden Armen ist dies bereits bis unter die Achseln ges­chehen. Von den geschunden­en Mus­kel­par­tien trieft stel­len­weise Blut. Vor der Gruppe kniet links im Vorder­grund ein Einge­boren­er mit Fed­er­schmuck und schärft ein Mess­er mit dem Wet­z­s­tahl. Rechts im Bild­h­in­ter­grund beo­bachtet in ein­i­ger Ent­fernung der lor­beer­bekrän­zte Astyages, der Bruder des heidnis­chen Königs, mit sein­en Sold­aten das Mar­tyri­um. Das Bild, welches ursprüng­lich für ein­en im 2. Weltkrieg zer­störten Barock­al­tar ges­tiftet worden war, stellt den Aspekt der Duld­samkeit, auch die hämis­che Grausamkeit, ja den Zyn­is­mus der Scher­gen heraus. 


Es ist diese Sin­nrich­tung des Mar­tyri­ums, die Aris Kala­izis in sein­er Inter­pret­a­tion des Motivs gestal­ten wird. Es schi­en bei der Orts­bestim­mung zur Hän­gung des neuen Gemäldes sodann sin­nvoll, beide Malereien an der West­wand des Kais­er­doms anzubrin­g­en, wo sie sich in direk­tem Gegensatz zum Altar befinden.
Während der Typus des stehenden oder thron­enden Bartho­lomäus häufig in der kirch­lichen Kunst des aus­ge­henden Mit­telal­ters anzutref­fen ist, find­en sich in der weit­er­en Kun­st­geschichte zahlreiche Bearbei­tun­gen der pas­sion­s­theo­lo­gis­chen Dimen­sion des Mar­tyri­ums wieder. So etwa bei dem Barock­maler Jusepe de Rib­era, der sein­en im Pra­do Mad­rid befind­lichen St. Bartho­lomäus (1617) wie ein Segel von einem Holzbalken hän­gen lässt, während die Scher­gen sich auf die Schindung vorbereit­en. Ebenso zeigt ihn der mit­telal­ter­liche Maler Stephan Loch­ner auf der Schind­bank lie­gend, auf dem von ihm geschaf­fen­en Welt­gericht­sal­tar im Wallraf-Richartz-Museum, Köln. 


…keine Spur der fro­hen Botschaft.


Nir­gends ein Zeugnis der Gnade. Keine spur der fro­hen Botschaft. Es gibt keine Akte der Barm­herzigkeit: kein­er geht, kein­er sieht wieder. Niemand wird gespießt. Kein­er läuft übers Wasser. Es thront niemand. Und wenn man es nüchtern betrachtet, gibt das, was hier einem Menschen durch andere anget­an wird, auch keineswegs Anlass dazu, an eine über­wälti­gende Evid­enz der fro­hen Botschaft zu den­ken, gesch­weige denn daran zu glauben. Es wird jemand getötet.
Gewiss, es ist selt­sam dieses Bild unbe­fan­gen anzuschauen. Weil die Evan­geli­en sagen uns ja: Er hieße Bartho­lomäus. Er sei Apostel, ein­er der Zwölf. In den Legenden­büch­ern steht: Er sei in Indi­en oder Per­si­en oder dem heut­i­gen Armeni­en zu Tode gekom­men. Aber wir soll­ten vor­sichtig sein, denn Aris Kala­izis wird es uns nicht so leicht machen. Wir können uns nicht vor dieses Bild stel­len und uns als Wis­sende einem ästhet­ischen Genuss hingeben — nicht unbe­fan­gen sein, nicht wie arglos, wie unschuldig, wie unbeschol­ten dre­insch­auen. Es ist kein Bild, dar­in man sich son­nt und sich seines Wesens Her­r­lich­keit gespiegelt sieht.


…es existiert eine Hoffnung, zu der man sich dur­chrin­gen muss


Der Null­punkt der Mis­sion, das Scheit­ern. Die kirch­liche Tra­di­tion, die ja bei allen Din­gen so schnell mit ihren unzäh­li­gen Begrif­fen bereit­steht, nen­nt sein Schick­sal etwas vor­eilig ein Mar­tyri­um. Mar­tyri­um. Wort. Begriff. Voka­bel. Schall und Rauch. Wir müssen uns aber klar sein, dass hier ein Mis­sion­ar — ein Glaubend­er — gezeigt ist, der am Null­punkt sein­er Mis­sion steht, der gerade krachend und blutig total scheit­ert. Und alles was er vorhatte, als er zu diesen ungläu­bi­gen und geistlosen Heiden ging, all das hing ohne­hin am seiden­en Faden und an diesen seiden­en Faden legen die Scher­gen gerade jet­zt ihre Klinge an — und durchtrennen ihn. Es ist aus.
Und demas­kiert nicht diese Ver­sion die im zweiten Abschnitt genan­nten Bearbei­tun­gen des Bartho­lomäus-Stoffs, die üppig im Kais­er­dom ver­teilt sind? Tri­umph­iert die Kirche hier selb­stzu­frieden in sein­er Gestalt? Ist hier das Mar­tyri­um ihre trotzige Gewis­sheit gegenüber ein­er unwil­li­gen und ungläu­bi­gen Welt? Was heißt das schon, im Besitz ein­er Reliquie eines Hei­li­gen zu sein? Oder im Besitz ein­er Lebens­geschichte eines Hei­li­gen zu sein? Oder ein Gemälde oder eine Skulp­tur von einem Hei­li­gen die Wände schmück­en zu lassen? Ist die Reliquie der ulti­mat­ive Gim­mick, der Beweis, dass alles wahr ist: ein Schädel­frag­ment, das seit Jahrhun­der­ten in jen­en Gemäuern verehrt wird. Beweist es alles? Dass alles gut gegan­gen ist. Dass alles klar ist. Dass wir Bes­cheid wis­sen. Dass wir selig sein, dass wir glauben können. 
Nur: in der ›Legenda aurea‹ steht merkwür­di­ger­weise ges­chrieben: »Über die Art, wie Sankt Bartho­lomäus gemartert ward, ist nicht ein­er­lei Meinung«.


…erin­nern wir uns, dass die Nation­alsozi­al­isten die Büch­er­ver­bren­nung in Frank­furt nur wenige Meter vom Kais­er­dom ent­fernt auf dem Römer­berg durchführten


Aris Kala­izis hat keine Lust, der Kirche mit einem weit­er­en Bild­nis ihr­er her­r­lichen Mär­tyrer zu schmeicheln. Auch in den ander­en Malereien von Aris Kala­izis find­en wir im Übri­gen keine erlöste Welt. Ganz im Gegen­teil: Alles steht auf der Kippe, immer. Wir sehen in vielen ander­en Bildern durch­brochene Böden, ein­geris­sene Wände und aus­ge­beutete Land­schaften, ver­lassene Gebäude. Wir sehen häufig ver­störende Szen­en der Zer­störung, des­ol­ate, kaputte Szen­en. Hier und da aber auch Zeichen der Hoffnung. Hier zum Beis­piel die Mor­gen­röte am Hori­zont. Aber: Die Hoffnung bei Aris Kala­izis ist bit­ter. Es ist keine romantische, kitschige, schul­ter­klop­fende, altkluge Hoffnung der Wis­senden, son­dern eine Hoffnung, zu der man sich dur­chrin­gen muss. Weil viel­leicht ist das keine Mor­gen­röte, son­dern die let­zten Momente des Lichts vor der Nacht.
Beides: Verkehrte Botschaft im Richti­gen. Richtige Botschaft im Verkehrten. Unsich­er­heit. Bit­ternis. Hoffnung, zu der man sich dur­chrin­gen muss, trotz der Klinge am Fleisch. Bejahung am abso­luten Null­punkt und Scheit­ern und Leiden mit dem Gott, der dich liebt. Ohne Trost. Also eigent­lich ist es pervers.

Aris Kalaizis, Detail: Das Martyrium des Hl. Bartholomäus oder das doppelte Martyrium
Aris Kalaizis, Detail: Das Martyrium des Hl. Bartholomäus oder das doppelte Martyrium

Viel­leicht ist diese Vis­ion per­v­ers, dem Mar­tyri­um den gesich­er­ten Boden der Tra­di­tion zu ent­ziehen und ihm ein­en dop­pel­ten Boden zu ver­passen. Eine per­verse unglaub­lich bittere Vis­ion der Hoffnung. Und dar­in die emin­ente Größe. Ich werde zum Schluss auf diesen Punkt einge­hen. Die emin­ente Größe der Vis­ion des Leipzi­ger Malers ist diese: Aris Kala­izis hat ver­standen, dass die Welt immer­fort unfer­tig ist.
Das Mar­tyri­um des Hei­li­gen Bartho­lomäus: Glaube als Ungewis­sheit. Dies ist eher ein agnostischer und kein athe­istischer Ansatz. Noch­mal, die »Legenda aurea«: »Über die Art, wie Sankt Bartho­lomäus gemartert ward, ist nicht ein­er­lei Mein­ung«. Kala­izis bietet hier ver­schiedene Mög­lich­keiten an, die uns auch die Vitae geben. Auf dem Kopf gekreuzigt. Gehäutet. Vorher ersch­la­gen. Aber viel­leicht besteht die Marter nicht im Ver­lust des eigen­en Lebens. Viel uner­träg­lich­er ist doch, dass die Botschaft, für die er gekom­men war, ver­bran­nt wird, eine Büch­er­ver­bren­nunng. Erin­nern wir uns, dass die Nation­alsozi­al­isten die Büch­er­ver­bren­nung in Frank­furt nur wenige Meter vom Kais­er­dom ent­fernt auf dem Römer­berg durchführten.


…Glaube als Ungewis­sheit. Dies ist eher ein agnostischer und kein athe­istischer Ansatz


Schauen wir z.B. auf die Kirchen­ru­ine im Meer. Sie existiert tat­säch­lich als Ruine: außer­halb von Leipzig, in ein­er Gemeinde, die Wachau heißt. Die Kirche von Wachau wird im 2. Weltkrieg durch Luftmin­en ruiniert und in der Zeit des Kom­mun­is­mus ver­nachlässigt. Der Architekt dieses Sakral­baus war Con­stantin Lip­si­us, ein ber­üh­mter säch­s­is­cher Architekt des späten 19. Jahrhun­derts. Er baut neben Gotteshäusern auch die Kunstakademie in Leipzig, also die heut­ige Hoch­schule für Grafik und Buch­kunst. Es scheint uner­träg­lich, dass das Gebäude im Hin­ter­grund, die Kirche, zu der er im Evan­geli­um die Menschen zusam­men­rufen woll­te dem Ver­fall anheimgegeben ist; und die Menschen, an die er sich wen­det, sie wiedersagen ihm. Wir kennen diese Mat­rix natür­lich. Wer jet­zt ein Wort des Trostes aus­s­pricht, der lügt. Es ist nicht so ein­fach in Geth­se­mane zu knien. 
Was immer auf der Kippe steht, ist aber nicht der Kirchen­bau, nicht eine Kunstakademie, nicht dieser oder jen­er Mär­tyrer oder Künst­ler, son­dern was auf der Kippe steht, was am seiden­en Faden hängt, ist die Ankun­ft der Botschaft. Was auf der Kippe steht, ist die Mög­lich­keit, sich zu ihr dur­chrin­gen zu können.


Ist Hoffnung gerecht­fer­tigt? Viel­leicht. Viel­leicht nicht. Und da — an diesem Moment — da alles ver­loren scheint, bricht ein­er aus — bricht ein­er aus der Hand­lung, ergre­ift ein­er das Evan­geli­um. Und dieser eine kehrt der Schändung den Rück­en, geht in das Meer und hebt es hoch. Er streckt das Buch dem Bild­h­in­ter­grund ent­ge­gen. Aber: wir wis­sen nicht ob zum Spott, ob zum Hohn, oder doch als Revolte gegen die unge­heure Neg­a­tion, Revolte gegen die Vernein­ung, die das Bild zu domin­ier­en scheint. 
Da, dort ist sie, die bittere unentschlossene, weil immer­fort sich dur­chrin­gende Hoffnung, von der wir eigent­lich nicht ein­mal sagen können, ob der Mann im Wasser das Buch zum Lob oder zum Spott hebt — auch wis­sen wir nicht, ob er es gegen die Mor­gen­röte oder gegen die Nacht hebt. Wir wis­sen nicht, ob es um Gott oder um die Kunst geht. Es ist nichts eindeut­ig aus­zu­machen, und es ist kaum auszuhalten.
Wir sind jet­zt an dem Punkt angekom­men, wo wir begre­ifen können, dass wir nicht dem Fries im Chor des Doms allein trauen können. Wir können nicht seine eindeut­ige Anlage hin­neh­men. Wir müssen den Null­punkt des Scheit­erns durchmessen, nichts steht fest, nichts ist errichtet, aber: Die Kunst besteht noch vor allen Kunstakademi­en, sie hält ihr brennendes Zeichen in die Ungewis­sheit; und die Revolte des Sinns, das Auf­begehren und Dur­chrin­gen zur bitter­en Hoffnung schießt siedend durch unsere Adern noch bevor nur ein ein­zi­ger Altar gewei­ht ist, daran wir das Wort, die Voka­bel den Begriff ›Mar­tyri­um‹ empfangen.

Paul-Henri Campbell (2013)
Paul-Henri Campbell (2013)

©2015 Paul-Henri Camp­bell | Aris Kalaizis


Paul-Henri Camp­bell wurde 1982 in Boston geboren. Der deutsch-amerik­an­is­che Lyriker stud­ierte Klassis­che Philo­lo­gie und kath­ol­ische Theo­lo­gie an der Nation­al Uni­ver­sity of Ire­land und der Goethe-Uni­versität in Frankfurt/​Main. Gegen­wärtig pro­moviert er an der Hoch­schule der Jesuiten, Sankt Geor­gen, in Frankfurt/​Main. Er schreibt Lyrik in eng­lischer und deutscher Sprache. Seit März 2013 ist er Mit­glied der Redak­tion der Zeits­chrift DAS GEDI­CHT. Bereits erschien­en Gedi­cht­bände: ›duk­tus oprandi‹ (2010) und ›Space Race‹ (2012). Im Herbst 2013 beschließt der Gedi­cht­band ›Am Ende der Zei­len‹ seine Tri­lo­gie ›Sound­ing out Today.‹

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