Aris Kalaizis: "Das Martyrium des Hl. Bartholomäus oder das doppelte Martyrium"
In diesem Text beschreibt der deutsch-amerikanische Autor Paul-Henri Campbell die Wirkungsgeschicht des Hl. Bartholomäus am Beispiel von Aris Kalaizis großformatigen Gemälde. Darüber hinaus untersucht er den Impetus des Religiösen innerhalb der Leipziger Schule.
Im Januar 2015 stellte der Leipziger Maler griechischer Herkunft Aris Kalaizis eine großformatige Ölmalerei zum Martyrium des hl. Bartholomäus fertig. Dieses Gemälde entstand in Auseinandersetzung mit der reichen Verehrungsgeschichte des Heiligen im Frankfurter Kaiserdom sowie mit den zahlreichen malerischen und plastischen Darstellungen, die seit der Gründung des Stifts der Legende Form und Gestalt verleihen.
Das Gemälde »Das Martyrium des Hl. Bartholomäus oder das doppelte Martyrium« von Aris Kalaizis, das zunächst ab dem 10. Februar 2015 bis Ostern 2015 in einer Einzelbildschau im Dommuseum Frankfurt am Main zu sehen war, ist nun an der Westwand des südlichen Seitenschiffs des Doms angebracht, wo es bis zum Hochfest des Kirchen- und Stadtpatrons bleiben wird.
Die Behandlung der Legende durch Aris Kalaizis ist auf mehreren Ebenen bemerkenswert: Erstmals befasst sich mit ihm nun ein Vertreter der ›Neuen Leipziger Schule‹ mit einem Frankfurter Sakralbau; das Gemälde verbindet Hagiographie mit der neueren Zeitgeschichte, wie etwa der Bücherverbrennung auf dem zum Dom angrenzenden Römerberg 1933; schließlich rückt das Gemälde die passionstheologische Dimension des Martyriums in den Vordergrund im Unterscheid zu den meisten anderen Bildnissen, die sich in und um den Frankfurter St. Bartholomäus Dom befinden, wie wir noch sehen werden.
Aris Kalaizis, Religion und die ›Neue Leipziger Schule‹
Als unmittelbar nach der Wende eine junge Maler-Generation im Umkreis der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig emporstrebte, blickte das Publikum der ›alten‹ Leipziger Schule bereits auf zahlreiche Bildnisse mit ›religiösen‹ Motiven und Themen. Beispiele hierfür sind etwa das monumentale ›Bauernkriegspanorama‹ in Bad Frankenhausen (1976−1987) von Werner Tübke und sein ›Zellerfelder Altar‹ (1997) oder Bernhard Heisigs ›Neues vom Turmbau‹ (1977) oder Arno Rinks › Italienische Begegnung‹ (1978).
Die teils ideologisch, teils existenziell motivierte Beschäftigung mit Religion im atheistischen Arbeiter- und Bauernstaat der DDR ist von besonderem Interesse, da sich sowohl bewusste Polemik als auch unbewusste Sehnsucht mit einer intellektuellen Religions- und Regimekritik vereinen, wie sie sonst nirgends im deutschsprachigen Raum aufzufinden war und ist.
Obgleich die ältere Generation der Leipziger Schule ohne christliches Bekenntnis lebte, dieses aus welchen Gründen auch immer vielleicht auch ablehnte, und obschon ebenfalls die meist in den 1960er Jahren geborenen Vertreter der ›Neuen Leipziger Schule‹ wie Neo Rauch, Michael Triegel, Bruno Griesel oder Aris Kalaizis atheistisch sozialisiert worden, sind diese Maler in ihrem künstlerischen Instinkt alles andere als unreligiös zu bezeichnen.
Sie hatten von den Alten Meistern gelernt, sie imitiert, sich an ihnen geübt, obwohl zeitgleich in den 1990er-Jahren unter dem Einfluss der westdeutschen Kunst-Traditionen alles Figürliche, alles Altmeisterliche mit hochmütiger Ironie bedacht worden war und das Publikum sogenannte ›abstrakte‹ Kunst favorisierte, um mit ihr in einem unterkühlten Zynismus zu versinken.
Es ist notwendig zu begreifen, dass die jungen Maler aus Leipzig hingegen keinen Widerspruch zwischen dem Alten und dem Neuen erblickten, sondern einen Bruch sahen, über den sie wie Fremde oder Hinzugelaufene staunten. Gewiss die ›Neue Leipziger Schule‹ ist auch geprägt von einem Streben nach technischer Perfektion, Perspektivraum und figürlicher Darstellung. Aber so sehr sich die altmeisterliche Brillanz eines Dürers, Velázquez', El Grecos oder Riberas in ihren Bildern äußert, so sehr sollte man bedenken, dass Maler wie Aris Kalaizis mit dieser geschichtlichen und ideellen Verschiebung, welche sich im 20. Jh. in der Malerei ganz entschieden vollzieht, produktiv umgehen.
Anders als im 19. Jh. etwa die Präraffaeliten in England oder die nazarenischen Künstler in Österreich, zelebrieren die Leipziger Maler der Gegenwart ihre stilistischen Anleihen nicht im Sinne eines antimodernistischen Protests oder einer Restitution des Gestrigen, sondern als produktive Urbarmachung der Vergangenheit für die Zukunft. Daher ist ihre Sehnsucht ohne Nostalgie, daher ist ihre ungeheure Modernität nicht bitter durch trotzige Revolte, sondern reich an produktiver Vision.
Aris Kalaizis nimmt eine besondere Position ein innerhalb der ›Neuen Leipziger Schule‹. Im Gegensatz zu seinen deutschen Kollegen wächst er als Sohn griechischer Immigranten in Leipzig auf, wo er 1966 geboren worden ist. Sein Weg zur Malerei war lang; und es war ein unwahrscheinlicher Weg. Vater und Mutter gehören zu den 10.000den Kindern, die nach dem griechischen Bürgerkrieg von ihren Eltern getrennt und in die sowjetischen Zonen verbracht worden sind. Die Eltern arbeiteten in der graphischen Industrie in Leipzig. Die Verschiebung seiner Perspektive beginnt schon hier.
…was ist Sottorealismus?
Es ist nicht zu unterschätzen, was es bedeutet als Migrant in der homogenen Gesellschaft der ehemaligen DDR aufzuwachsen. Ein Anderer zu sein – anders zu sein, weil der wahre Ursprung dort ist, wo Apollo mit Dionysus streitet, wo zwischen den Zypressen- und Oleanderhainen immer ein Pan forthuscht und an jeder Quelle eine andere Nymphe mit den Augen zwinkert. Seine Biographie lässt sich kaum erzählen. Sie wird wie erfunden sein, wenn sie niedergeschrieben ist. Wir werden einmal von einem Jungen hören, der in den frühen 70er Jahren am Stadtrand von Leipzig Fußball spielt, beim Ansturm aufs Tor plötzlich stehen blieb, den Ball einfach weiterrollen lässt, weil er so überwältigt ist von irgendetwas, das sich seinen Augen darbietet.
Die Realität, in der Aris Kalaizis aufwächst, wo er zunächst eine Lehre zum Offsetdrucker macht, wo ihm sein Vater aus dürftigem Holz die erste Staffelei baut und zur Weihnacht schenkt, die Realität wo seine Mutter den Duft von fremden Gewürzen hat, während die anderen Kinder sächsische und thüringische Spezialitäten essen müssen … diese Realität unterscheidet sich wesentlich von einer durchschnittlichen DDR-Sozialisation.
Und es wundert einen dann plötzlich nicht mehr, wenn in dieser vergangenen Welt, wo die meisten Menschen in ihren anständigen, rechten Winkel und verzogenen Rahmen leben, dass dort nun nach dem Fall der Mauer Aris Kalaizis sich entschließt, fortan seine Rahmen selbst zu spannen, die Größe seiner Rahmen selbst zu wählen, ein Werk zu schaffen, das an die Autonomie und Vieldeutigkeit des Augenscheinlichen appelliert.
Und so geht er hin und hämmert an den Toren der berühmten Hochschule für Graphik und Buchkunst in Leipzig. Man lässt ihn eintreten. Dort wird er zum Meisterschüler von Arno Rink. Von da an wird er ein Eigenwilliger, ein Solitär. Diese Geschichte ist kein Märchen. Sie ist wirklich. Aber sie muss so erzählt werden wie ein Märchen, weil man begreifen muss, dass hier ein Wille vor uns tritt der jedes Hindernis, jede Mühsal kannte auf seinem Weg zur Meisterschaft.
…Es ist eine Art Metaphysik, die das Diesseits liebt und diese nie vollständig umfangen mag
Und es war eine amerikanische Kunsthistorikerin aus New York, Carol Strickland, die erkannte, dass wir neue Kategorien brauchen werden, um uns dem Werk von Aris Kalaizis zu nähern. Sie prägt den Begriff ›Sottorealismus‹, um jene Anschauung zu beschreiben, die sich hier bildlich Raum schafft. Was ist Sottorealismus? Denken wir an ›sotto voce‹ in der Musik: also das sanfte, flüsternde Sprechen. Sotto voce: Die Mozart-Partituren sind ganz voll davon. Sottorealismus, das ist das Raunen unter und über dem Realen. Dissonanz. Flimmern. Es ist eine Art Metaphysik, die das Diesseits liebt und diese nie vollständig umfangen mag. Und doch plant der Sottorealist Aris Kalaizis seine Bilder exakt, lange Zeit hin werden sie vorüberlegt. Er sucht nach Leere, innere und äußere Leere. Er malt nur etwa sechs oder sieben Bilder im Jahr. Er geduldet sich lange mit seinen Einfällen. Zu vielen seiner Bilder entstehen zunächst umfangreiche Modelle im Atelier oder in der freien Natur wie bei diesem Bild. Solche Modelle sind mit dem Labor des Chemikers vergleichbar. Sie sind experimentelle Phasen, darin der Maler zunächst prüft und erwägt, ob sein Inbild, seine innere Empfindung trägt, ob das Inbild stark genug ist, ein Gemälde zu sein.
St. Bartholomäus im Kaiserdom – Bestand und Neuentdeckung
Im Januar 2014 eröffnete das Dommuseum Frankfurt am Main bereits eine Einzelschau von vier Gemälden von Aris Kalaizis, in der sich u.a. das Gemälde ›Make/Believe‹ (2009) und ›Das Schweigen des Waldes‹ (2010) befanden. Schon im Rahmen dieser Ausstellung war der Künstler von den zahlreichen Darstellungen des Kirchenpatrons in und um den Dom fasziniert und begann sich mit dem Apostel zu beschäftigen.
Kalaizis beschäftigt sich aber weniger mit den vielfältigen, auch sich einander widersprechenden Quellen, die schriftliche Berichte von Missionarstätigkeit des Märtyrers in Indien und Armenien mitteilen. Vielmehr setzt er sich intensiv mit dem lokalen Bestand an Schmiedearbeiten und Bildhauereien, mit den Fresken und Malereien auseinander in jenem Gebäude in Frankfurt am Main, das dem Heiligen geweiht ist.
Freilich ist der Künstler vertraut mit den biblischen Zeugnissen bei den Evangelisten Matthäus (10,3), Markus (3,18), Lukas (6,14) sowie der Apostelgeschichte (1,13). Ihm ist bekannt, dass die Evangelisten Bartholomäus sowohl aramäisch Bar Tholmai (Sohn des Tholmai, Sohn des Furchenziehers) als auch als Nathanael (Geschenk Gottes) heißen; er ahnt, wie weitläufig die Reise des Missionars gewesen sein soll, die schließlich zu seiner Schindung und Hinrichtung führte: nach Indien, ins Gebiet der Meder und Perser, nach Syrien, nach Germanien, ins Land der Parther und sogar nach Armenien ging sie angeblich.
Die populäre Überlieferung in der Sammlung ›Legenda aurea‹, kennt Aris Kalaizis, darin der Dominikaner Jacobus de Voragine (1230−1298) Heiligenlegenden zusammenstellte. Die ›Goldene Legende‹ ist seit dem Mittelalter für die abendländische Kunst am einflussreichsten. Auch diese berichtet von einem Prediger, der gegen die Anbetung der Götzenbilder wettert und angeblich die Tochter eines heidnischen Königs von bösen Geistern befreit; sie berichtet ebenfalls von der Enthäutung bei lebendigem Leib auf Befehl einer lokalen Elite. Aber nicht nur davon. Wenn auch diese vornehmlich persische Art der Strafe für den Verurteilten endgültig ist, stellt sie nicht die einzige Schilderung vom Martyrium dar: von einer Kreuzigung mit Kopf nach unten, von der Versenkung im Meer, von einer Enthauptung ist die Rede. Beginnt man die Quellen kritisch zu vergleichen, so eröffnet sich – wie in der christlichen Hagiographie üblich – ein weites Feld an Widersprüchen, das manche auch freundlich als Variantenreichtum bezeichnen.
Die Frankfurter Frömmigkeitsgeschichte in Bezug auf den Apostel Bartholomäus beginnt spätestens mit der Überführung der Reliquie, die aus einem großen kalottenartig gewölbten Stück des Schädels besteht (12 cm lang, 7 cm breit). Ein 1215 entstandenes Siegel an einer Stiftsurkunde bildet eines der frühesten Zeugnisse hierfür, obschon einige Kirchenhistoriker an eine Transferierung der Reliquie von S. Bartolomeo auf der römischen Tiberinsel an den Main bereits um Mitte des 12. Jahrhunderts glauben.
Zwei Reliquiare befinden sich im Dommuseum, die zur Aufbewahrung und Präsentation des Knochenfragments angefertigt worden sind. Zunächst ist da die silberne Reliquienbüste des hl. Bartholomäus, die um 1727 in der Werkstatt des Augsburger Goldschmieds Franz Ignaz Berdold entstand. Sie besitzt ein frontal ausgerichtetes Haupt mit schulterlangem gelocktem Haar und ein bärtiges Gesicht von asketischem Charakter. Sein Hals und Brustkorb sind muskulös und plastisch durchgearbeitet; Ein Tuch begleitet die Gestalt, welches über die Schultern gelegt ist und der Büste eine ruhige, geschlossene Kontur verleiht. Das sogenannte redende Reliquiar (weil es in seiner Form auf die Reliquie hinweist) dramatisiert die Vorstellung des schönen Leibes, der im Kontrast zur Malträtierung durch die Schergen steht. Die Drapierung sowie die Büsten-Form erinnert an die Heroen oder Götter der antiken Kunst. Das zweite, jüngere Reliquiar sodann schuf der Frankfurter Goldschmied Karl Borromäus Berthold im Jahre 1929 aus vergoldetem Silber mit Schmucksteinen. Im Zusammenhang mit der Erneuerung des Kunsthandwerks in den 1920er-Jahren steht der auf einem getreppten Sockel befindliche Schrein, der eine Kreuzung expressionistischer Kunst und Reminiszenzen der Neugotik darstellt. Drei pfeilerartige Bergkristalle besetzen die Stufen des Giebels beidseitig und bilden so eine dreieckige Kapsel zur Aufbewahrung der Reliquie, worüber ein ebenfalls aus Bergkristall geschliffenes Kreuz thront. Eine vielstrahlige Mandorla steht über dem Schrein. Die Umschrift am Sockel heißt: »SANCTE + BARTOLOMAEE / PATRONE + ET / PROTECTOR + NOSTER / ORA PRO NOBIS«. Beide Reliquiare stellen in ihrer künstlerischen Bearbeitung also den Aspekt der Heiligkeit in den Vordergrund.
…von einer Kreuzigung mit Kopf nach unten, von der Versenkung im Meer, von einer Enthauptung ist die Rede
Die überwältigende Zahl der 33 Darstellungen des Heiligen verfolgt diese Linie. Die große Turmmonstranz des Stifts St. Bartholomäus (um 1498), die im Dommuseum ausgestellt wird, verfügt über eine kleine Silberfigur des Apostels, die ihn mit einem großen Messer – also dem Instrument seiner Schindung – in der rechten Hand darstellt. Die nimbierte Figur fasst in der anderen Hand ein Buch und ist offenbar über seine weltliche Demütigung erhaben. Weiterhin zeigt ein querrechteckiges Pectorale, also eine geschmiedete Schließe für einen Chormantel, den aufrecht stehenden Heiligen zwischen den hll. Johannes der Täufer und Margarete (je mit Attributen). Auch diese barfüßige Figur zeichnet ein erhabenes Bild: Sein Mantelumhang über dem langen Gewand ist vor dem Leib vielfältig drapiert; mit der angewinkelten, leicht ausgestellten Rechten zeigt er das Messer vor, über dem Unterarm der angewinkelten Linken hängt schwungvoll die Haut.
Besonders diese Form des Heiligen, die ihn mit seiner eigenen Haut lässig über den angewinkelten Arm drapiert zeigt, wiederholt sich nun im gesamten Kirchengebäude z.B. in der Eichenholzschnitzerei des Chorgestühls (um 1352), der farbig gefassten Sandsteinfigur an der Nordwand des Hochchors (um 1440) oder einem Schlussstein im westlichen Gewölbe der Wahlkapelle (um1425-1438). Auch viele Stücke aus der Altar-Sammlung Münzenberger, womit ein Großteil der Innenausstattung des Domes seit Ende des 19. Jh. bestritten wird, nehmen diese Form auf: z.B. die Relieffigur am linken Flügel des Herz-Jesu-Altars an der Ostwand des Nordquerhauses (Memmingen, datiert 1505) oder die Skulptur im Gesprenge des Liebfrauenaltars an der Ostwand des Südquerhauses (Schwaben, um 1500).
In erster Linie aber ist es das Bartholomäus Fries, welches sich an der Süd- und Nordwand des Chores entlangzieht, das die ruhmreiche Heiligkeit des Märtyrers zur Darstellung bringen soll. Das Fries erzählt in 28 Szenen das Wirken und Sterben des Heiligen. St. Bartholomäus erkennt man am langen weißen Gewand, in welches die mittelalterliche Vita der ›Legenda aurea‹ eingekleidet hatte. Diese im 1. Drittel des 15. Jahrhunderts gestiftete Seccomalerei in Temperafarben schlägt eine erzählerische Brücke von der Aussendung der Apostel bis hin zur Weihe eines bekehrten Heiden zum Bischof. Sie handelt also vom Ursprung der Kirche in der kompromisslosen Nachfolge, setzt aber diese Nachfolge auch schon als gegeben voraus.
Eine alternative Akzentuierung findet sich hingegen in Oswald Onghers Ölgemälde ›Marter des Hl. Bartholomäus‹ (datiert 1670), das sich heute an der Westwand des nördlichen Seitenschiffes befindet. Der die Bildmitte einnehmende, nur mit einem Lendentuch bekleidete Bartholomäus lehnt ermattet mit dem Rücken an einen Baum, an den ihn wohl ein Scherge fesselte. Rechts daneben steht, das Messer quer im Mund haltend, ein zweiter Scherge. Dieser zieht Bartholomäus die Haut ab. An beiden Armen ist dies bereits bis unter die Achseln geschehen. Von den geschundenen Muskelpartien trieft stellenweise Blut. Vor der Gruppe kniet links im Vordergrund ein Eingeborener mit Federschmuck und schärft ein Messer mit dem Wetzstahl. Rechts im Bildhintergrund beobachtet in einiger Entfernung der lorbeerbekränzte Astyages, der Bruder des heidnischen Königs, mit seinen Soldaten das Martyrium. Das Bild, welches ursprünglich für einen im 2. Weltkrieg zerstörten Barockaltar gestiftet worden war, stellt den Aspekt der Duldsamkeit, auch die hämische Grausamkeit, ja den Zynismus der Schergen heraus.
Es ist diese Sinnrichtung des Martyriums, die Aris Kalaizis in seiner Interpretation des Motivs gestalten wird. Es schien bei der Ortsbestimmung zur Hängung des neuen Gemäldes sodann sinnvoll, beide Malereien an der Westwand des Kaiserdoms anzubringen, wo sie sich in direktem Gegensatz zum Altar befinden.
Während der Typus des stehenden oder thronenden Bartholomäus häufig in der kirchlichen Kunst des ausgehenden Mittelalters anzutreffen ist, finden sich in der weiteren Kunstgeschichte zahlreiche Bearbeitungen der passionstheologischen Dimension des Martyriums wieder. So etwa bei dem Barockmaler Jusepe de Ribera, der seinen im Prado Madrid befindlichen St. Bartholomäus (1617) wie ein Segel von einem Holzbalken hängen lässt, während die Schergen sich auf die Schindung vorbereiten. Ebenso zeigt ihn der mittelalterliche Maler Stephan Lochner auf der Schindbank liegend, auf dem von ihm geschaffenen Weltgerichtsaltar im Wallraf-Richartz-Museum, Köln.
…keine Spur der frohen Botschaft.
Nirgends ein Zeugnis der Gnade. Keine spur der frohen Botschaft. Es gibt keine Akte der Barmherzigkeit: keiner geht, keiner sieht wieder. Niemand wird gespießt. Keiner läuft übers Wasser. Es thront niemand. Und wenn man es nüchtern betrachtet, gibt das, was hier einem Menschen durch andere angetan wird, auch keineswegs Anlass dazu, an eine überwältigende Evidenz der frohen Botschaft zu denken, geschweige denn daran zu glauben. Es wird jemand getötet.
Gewiss, es ist seltsam dieses Bild unbefangen anzuschauen. Weil die Evangelien sagen uns ja: Er hieße Bartholomäus. Er sei Apostel, einer der Zwölf. In den Legendenbüchern steht: Er sei in Indien oder Persien oder dem heutigen Armenien zu Tode gekommen. Aber wir sollten vorsichtig sein, denn Aris Kalaizis wird es uns nicht so leicht machen. Wir können uns nicht vor dieses Bild stellen und uns als Wissende einem ästhetischen Genuss hingeben — nicht unbefangen sein, nicht wie arglos, wie unschuldig, wie unbescholten dreinschauen. Es ist kein Bild, darin man sich sonnt und sich seines Wesens Herrlichkeit gespiegelt sieht.
…es existiert eine Hoffnung, zu der man sich durchringen muss
Der Nullpunkt der Mission, das Scheitern. Die kirchliche Tradition, die ja bei allen Dingen so schnell mit ihren unzähligen Begriffen bereitsteht, nennt sein Schicksal etwas voreilig ein Martyrium. Martyrium. Wort. Begriff. Vokabel. Schall und Rauch. Wir müssen uns aber klar sein, dass hier ein Missionar — ein Glaubender — gezeigt ist, der am Nullpunkt seiner Mission steht, der gerade krachend und blutig total scheitert. Und alles was er vorhatte, als er zu diesen ungläubigen und geistlosen Heiden ging, all das hing ohnehin am seidenen Faden und an diesen seidenen Faden legen die Schergen gerade jetzt ihre Klinge an — und durchtrennen ihn. Es ist aus.
Und demaskiert nicht diese Version die im zweiten Abschnitt genannten Bearbeitungen des Bartholomäus-Stoffs, die üppig im Kaiserdom verteilt sind? Triumphiert die Kirche hier selbstzufrieden in seiner Gestalt? Ist hier das Martyrium ihre trotzige Gewissheit gegenüber einer unwilligen und ungläubigen Welt? Was heißt das schon, im Besitz einer Reliquie eines Heiligen zu sein? Oder im Besitz einer Lebensgeschichte eines Heiligen zu sein? Oder ein Gemälde oder eine Skulptur von einem Heiligen die Wände schmücken zu lassen? Ist die Reliquie der ultimative Gimmick, der Beweis, dass alles wahr ist: ein Schädelfragment, das seit Jahrhunderten in jenen Gemäuern verehrt wird. Beweist es alles? Dass alles gut gegangen ist. Dass alles klar ist. Dass wir Bescheid wissen. Dass wir selig sein, dass wir glauben können.
Nur: in der ›Legenda aurea‹ steht merkwürdigerweise geschrieben: »Über die Art, wie Sankt Bartholomäus gemartert ward, ist nicht einerlei Meinung«.
…erinnern wir uns, dass die Nationalsozialisten die Bücherverbrennung in Frankfurt nur wenige Meter vom Kaiserdom entfernt auf dem Römerberg durchführten
Aris Kalaizis hat keine Lust, der Kirche mit einem weiteren Bildnis ihrer herrlichen Märtyrer zu schmeicheln. Auch in den anderen Malereien von Aris Kalaizis finden wir im Übrigen keine erlöste Welt. Ganz im Gegenteil: Alles steht auf der Kippe, immer. Wir sehen in vielen anderen Bildern durchbrochene Böden, eingerissene Wände und ausgebeutete Landschaften, verlassene Gebäude. Wir sehen häufig verstörende Szenen der Zerstörung, desolate, kaputte Szenen. Hier und da aber auch Zeichen der Hoffnung. Hier zum Beispiel die Morgenröte am Horizont. Aber: Die Hoffnung bei Aris Kalaizis ist bitter. Es ist keine romantische, kitschige, schulterklopfende, altkluge Hoffnung der Wissenden, sondern eine Hoffnung, zu der man sich durchringen muss. Weil vielleicht ist das keine Morgenröte, sondern die letzten Momente des Lichts vor der Nacht.
Beides: Verkehrte Botschaft im Richtigen. Richtige Botschaft im Verkehrten. Unsicherheit. Bitternis. Hoffnung, zu der man sich durchringen muss, trotz der Klinge am Fleisch. Bejahung am absoluten Nullpunkt und Scheitern und Leiden mit dem Gott, der dich liebt. Ohne Trost. Also eigentlich ist es pervers.
Vielleicht ist diese Vision pervers, dem Martyrium den gesicherten Boden der Tradition zu entziehen und ihm einen doppelten Boden zu verpassen. Eine perverse unglaublich bittere Vision der Hoffnung. Und darin die eminente Größe. Ich werde zum Schluss auf diesen Punkt eingehen. Die eminente Größe der Vision des Leipziger Malers ist diese: Aris Kalaizis hat verstanden, dass die Welt immerfort unfertig ist.
Das Martyrium des Heiligen Bartholomäus: Glaube als Ungewissheit. Dies ist eher ein agnostischer und kein atheistischer Ansatz. Nochmal, die »Legenda aurea«: »Über die Art, wie Sankt Bartholomäus gemartert ward, ist nicht einerlei Meinung«. Kalaizis bietet hier verschiedene Möglichkeiten an, die uns auch die Vitae geben. Auf dem Kopf gekreuzigt. Gehäutet. Vorher erschlagen. Aber vielleicht besteht die Marter nicht im Verlust des eigenen Lebens. Viel unerträglicher ist doch, dass die Botschaft, für die er gekommen war, verbrannt wird, eine Bücherverbrennunng. Erinnern wir uns, dass die Nationalsozialisten die Bücherverbrennung in Frankfurt nur wenige Meter vom Kaiserdom entfernt auf dem Römerberg durchführten.
…Glaube als Ungewissheit. Dies ist eher ein agnostischer und kein atheistischer Ansatz
Schauen wir z.B. auf die Kirchenruine im Meer. Sie existiert tatsächlich als Ruine: außerhalb von Leipzig, in einer Gemeinde, die Wachau heißt. Die Kirche von Wachau wird im 2. Weltkrieg durch Luftminen ruiniert und in der Zeit des Kommunismus vernachlässigt. Der Architekt dieses Sakralbaus war Constantin Lipsius, ein berühmter sächsischer Architekt des späten 19. Jahrhunderts. Er baut neben Gotteshäusern auch die Kunstakademie in Leipzig, also die heutige Hochschule für Grafik und Buchkunst. Es scheint unerträglich, dass das Gebäude im Hintergrund, die Kirche, zu der er im Evangelium die Menschen zusammenrufen wollte dem Verfall anheimgegeben ist; und die Menschen, an die er sich wendet, sie wiedersagen ihm. Wir kennen diese Matrix natürlich. Wer jetzt ein Wort des Trostes ausspricht, der lügt. Es ist nicht so einfach in Gethsemane zu knien.
Was immer auf der Kippe steht, ist aber nicht der Kirchenbau, nicht eine Kunstakademie, nicht dieser oder jener Märtyrer oder Künstler, sondern was auf der Kippe steht, was am seidenen Faden hängt, ist die Ankunft der Botschaft. Was auf der Kippe steht, ist die Möglichkeit, sich zu ihr durchringen zu können.
Ist Hoffnung gerechtfertigt? Vielleicht. Vielleicht nicht. Und da — an diesem Moment — da alles verloren scheint, bricht einer aus — bricht einer aus der Handlung, ergreift einer das Evangelium. Und dieser eine kehrt der Schändung den Rücken, geht in das Meer und hebt es hoch. Er streckt das Buch dem Bildhintergrund entgegen. Aber: wir wissen nicht ob zum Spott, ob zum Hohn, oder doch als Revolte gegen die ungeheure Negation, Revolte gegen die Verneinung, die das Bild zu dominieren scheint.
Da, dort ist sie, die bittere unentschlossene, weil immerfort sich durchringende Hoffnung, von der wir eigentlich nicht einmal sagen können, ob der Mann im Wasser das Buch zum Lob oder zum Spott hebt — auch wissen wir nicht, ob er es gegen die Morgenröte oder gegen die Nacht hebt. Wir wissen nicht, ob es um Gott oder um die Kunst geht. Es ist nichts eindeutig auszumachen, und es ist kaum auszuhalten.
Wir sind jetzt an dem Punkt angekommen, wo wir begreifen können, dass wir nicht dem Fries im Chor des Doms allein trauen können. Wir können nicht seine eindeutige Anlage hinnehmen. Wir müssen den Nullpunkt des Scheiterns durchmessen, nichts steht fest, nichts ist errichtet, aber: Die Kunst besteht noch vor allen Kunstakademien, sie hält ihr brennendes Zeichen in die Ungewissheit; und die Revolte des Sinns, das Aufbegehren und Durchringen zur bitteren Hoffnung schießt siedend durch unsere Adern noch bevor nur ein einziger Altar geweiht ist, daran wir das Wort, die Vokabel den Begriff ›Martyrium‹ empfangen.
©2015 Paul-Henri Campbell | Aris Kalaizis
Paul-Henri Campbell wurde 1982 in Boston geboren. Der deutsch-amerikanische Lyriker studierte Klassische Philologie und katholische Theologie an der National University of Ireland und der Goethe-Universität in Frankfurt/Main. Gegenwärtig promoviert er an der Hochschule der Jesuiten, Sankt Georgen, in Frankfurt/Main. Er schreibt Lyrik in englischer und deutscher Sprache. Seit März 2013 ist er Mitglied der Redaktion der Zeitschrift DAS GEDICHT. Bereits erschienen Gedichtbände: ›duktus oprandi‹ (2010) und ›Space Race‹ (2012). Im Herbst 2013 beschließt der Gedichtband ›Am Ende der Zeilen‹ seine Trilogie ›Sounding out Today.‹