Aris Kalaizis

Notizen zu einem malerischen Werk

Paul Henri Camp­bell durch­b­il­det in seinem Text das Numinöse im Werk von Aris Kala­izis. Dabei beleuchtet er im Hin­blick auf die Herkun­ft, den Arbeit­s­prozess des Leipzi­ger Malers

Aris Kalaizis | Mondstunde | Öl auf Holz | 60x81 cm | 2012
Aris Kalaizis | Mondstunde | Öl auf Holz | 60x81 cm | 2012

Das Mater­i­al, aus dem der Leipzi­ger Maler und Ver­treter der Neuen Leipzi­ger Schule, Aris Kala­izis, seine Werke schafft, ist nur schwer hand­hab­bar. Sein Werkstoff ist das Numin­ose. Genauer: Er durch­b­il­det das Numin­ose; er arbeitet an den Gren­zen unseres Daseins, an sein­en Wendepunk­ten und Über­gän­gen. Indem Aris Kala­izis den fass­bar­en Raum des Wirk­lichen und das unfass­bare Reich des Ima­ginären und Mög­lichen zusam­men­führt, bringt er den mystischen Abgrund auf dem das mensch­liche Leben steht vor unsere Augen. Diese Syn­these entsteht aus kom­plex angelegten Erzählzusam­men­hän­gen, die sich in ein­er ein­zelnen Szene kreuzen.


Ich möchte in dieser kur­zen Annäher­ung an das Werk des 1966 geboren­en Malers Aris Kala­izis auf nur drei Punkte zu sprechen kom­men: sein Geheim­nis, seine Prax­is und zur bio­graph­is­chen Genese sein­er Vision.


Die Entscheidungs­mächtigkeit des Augenblicks


Betrachter und Kom­ment­atoren der Bilder von Aris Kala­izis ziehen häufig eine Par­al­lele zum Film, mit dem Unter­schied, dass der Maler eine ein­zige Szene vor­führt, der Film gewis­ser­maßen im Still­stand erzählt wird. Während die Kin­emato­graph­ie mit einem rap­iden Ablauf von Vor­gän­gen und Ereign­is­sen ihren Wert gen­er­iert, iso­liert Aris Kala­izis ein­en ein­zi­gen Weltausschnitt, jen­en, der zählt, der alles erzäh­len kann. Schauen wir beis­piels­weise auf das Gemälde Die Ein­mis­chung der Engel aus dem Jahre 2009. Die gemalte Szen­er­ie friert die Bewe­gung eines Engel­sturzes ein und ver­wan­delt sie somit in ein­en ver­än­der­ungslosen, abso­lut stat­ischen Gegen­stand der Anschauung. Gewiss, dass machen viele Bilder. Aber was genau steht still? Mit dem stürzenden Engel ist zugleich eine existen­zi­elle Bestürzung der beiden Akteure dieser Story einge­froren. Das Vor und Danach dieser Szene ist ver­gleich­bar mit dem Vor und Danach here­in­brechender Nat­urge­wal­ten. Nichts ist mehr so wie es dav­or war, eine Gren­ze liegt zwis­chen den Zeiten, ein Über­gang vollzieht sich vor unser­en Augen. Was sind diese Wendepunkte?


Nun. Ein ander­er Grieche, näm­lich Aris­toteles, urteilte einst in sein­er Poet­ik, dass Peri­pe­tien, die Wendepunkte, die plot-turns, die vornehm­liche Beschäf­ti­gung des Künst­lers sei. Peri­pe­tien brin­g­en ein Ges­chehen in Gang. Durch sie wird über­haupt eine zeit­liche Dimen­sion in die Hand­lun­gen einge­führt. Dah­er misst sich die Glaubhaftigkeit des Erzähl­bar­en an diesen Zwis­chen­räu­men, die Aris Kala­izis nicht nur zum Thema, son­dern zum Mit­telpunkt sein­er Arbeit macht, da er sie in seine Kom­pos­i­tion ein­friert. In einem Inter­view sagte der Maler: „Für mich sind die Orte ledig­lich die äußer­en Räume, die Begren­zun­gen, die erst die zu ima­gini­er­enden Ereign­isse her­vor­brin­g­en.“ Die Entscheidungs­mächtigkeit des dram­at­ischen Augen­blicks, der Begren­zung des Vorher und dem Nach­h­er im Blick­fang ein­er Wen­demarke, die Treue zu dieser Entscheidung in ihr­er Darstel­lung, das macht die Größe, aber auch die Qual­ität dieses Malers aus.


Manch­mal hält er Wendepunkte fest, die weni­ger vom Arrest phys­is­cher Anstrengun­gen gek­en­nzeich­net sind, son­dern dav­on, dass sie uns den Moment ein­er plötz­lichen Erken­nt­nis zei­gen, wie etwa in Lost 22 von 2012. Sooft der Betrachter in diesen Bildern spürt, dass etwas auf der Kippe steht, sooft bleibt die Bestim­mung dessen, was genau auf der Kippe steht, offen. Diese Frage über­gibt Kala­izis an den Betrachter selbst. Diese Ambi­gu­ität, die Ver­wei­ger­ung ein­er allum­fassenden Erken­nt­nis, dok­u­mentiert die wun­der­volle Achtung, die Kala­izis sein­en Betrachtern ent­ge­gen­bringt. Er nim­mt den Betrachter sol­cher­maßen ernst, dass der Maler selbst vollkom­men zurück­tritt, aus der Welt, von der er ein­en Aus­schnitt ent­wor­fen hat. In einem Gespräch sagt er ein­mal: „Das Betracht­en des eigen­en Entwurfs, der eigen­en Arbeit ist keineswegs nur ein Dia­log zwis­chen mir und dem Bild. Mit jedem betrachtenden und somit krit­ischen Zurück­tre­ten von der Staffelei, trete ich auch in ein­en Dia­log mit ander­en Betrachtern ein. Ich stelle mir aber stets den erhaben­sten unter allen mög­lichen Betrachtern vor.“


Das Nachden­ken über eine Szene stiftet eine Gemeinsch­aft der Ansicht. Es ist die Welt des Betrachters, die aus diesem Aus­schnitt ein­en Weltausschnitt macht. Was ging der 2011 gemal­ten Szen­er­ie in Das Innere Exil (2011) voraus? Was kön­nte die Folge dieses eigentüm­lichen Momentes sein? Was bewirkt die Einsicht in ein­en Wendepunkt? Die chin­es­is­chen Besuch­er der Guang­zhou-Tri­en­nale in 2011 stehen wie verza­ubert vor den Kalaiz'schen Bildern, die so voll sind von ver­störender Schön­heit, da die Szen­en ihre Betrachter hinein­ris­sen in eine Welt, die zwar noch die ihre ver­traute, aber doch auch eine frem­de war. Ein Ams­ter­damer Journ­al­ist schrieb bereits 2002 tref­fend „Kalaizis' Bilder sind aufge­laden mit ein­er selt­samen Heftigkeit, in einem Klima höch­ster Sinnlichkeit.“

Die Prax­is der Langsamkeit


Der Arbeit­s­prozess dieses Malers ist keineswegs durch nervöse Hyper­produkt­iv­ität geprägt. Auffäl­lig ist ein unzeit­gemäßes Innehal­ten. Aris Kala­izis erwägt bei der Bild­find­ung mehr­ere Arbeit­s­weis­en: 1) Das Streben nach ein­er inner­en Leere, die für das neue Inbild empfäng­lich macht; 2) die Geduld diese numin­ose Empfind­ung an Orten der Wirk­lich­keit zu sehen; 3) den Traum; 4) die Erschaf­fung des Inbildes als Mod­ell in der pro­fan­en Wirk­lich­keit des Ateliers oder der freien Natur zum Ziele all­mäh­lichen Annäher­ung an das Wun­schb­ild – meist unter Ein­bez­iehung von Handwerkern, Sta­tisten, Laiendarstellern sow­ie pro­fes­sion­el­len Schaus­piel­ern; 5) Her­stel­lung von ver­schieden­en Foto­grafi­en 6) Neujustiert­er Entwurf zum Wun­schb­ild anhand der Foto­dok­u­mente; 7) die mühevolle Real­is­ier­ung des Inbildes in Öl auf Leinwand.


Bei dieser vielgliedrig­en Kaskade seines Arbeit­s­prozesses entstehen nur wenige Arbeiten pro Jahr, nur fünf bis sieben Gemälde. Diese kleine Zahl an Werken ist ein wei­t­eres Ind­iz für den hohen Stel­len­wert, den Kala­izis dem schöp­ferischen Prin­zip in sein­er Arbeit zumisst. Beson­ders die zweite Stufe dieses Arbeit­s­prozesses macht deut­lich, wie ernst es diesem Maler mit seinem inner­en Auge ist. In ein­er Epoche von medialer Bilder­flut, übt Aris Kala­izis Askese. Sorgfältig kul­tiviert er die ima­gin­at­ive Kraft sein­er Intro­spek­tion. Erst die Leere eröffnet ihm den Blick ins Freie, bis­lang Unbekan­nte. Sobald die Stim­mung für ein neues Bild richtig ist, set­zt eine intens­ive Kon­tem­pla­tion ein, die an ihr­em Ende von Planung­s­phasen der Umset­zung abgelöst wird, um den Inbild zun­ächst vorläufig eine äußere Real­ität zu geben. Die Kon­struk­tion des Bild-Mod­ells ist zumeist Arbeits- und Per­son­al­in­tens­iv. Für das Gemälde Das Blu­men­haus wurde 2012 der Boden in einem ver­waisten Fab­rikge­bäude zu einem Beck­en umge­baut, in das Knöchel­hoch Wasser ein­gelassen wurde, eine Zwis­chen­de­cke wurde eingezo­gen, die Wände wur­den tapez­iert, eine Flug­zeugtur­bine wurde gebaut, schließ­lich betrat die Schaus­piel­er­in Andrea Sawatzki den kon­stru­ier­ten Raum.


Die Auf­bauten für ein anderes Bild, Die Verge­gen­wär­ti­gung des Ver­gan­gen­en (2011), das let­zt­lich mit dem Schaus­piel­er Chris­ti­an Berkel umge­set­zt wurde, entstanden in einem Tüm­pel eines Privat­grundstücks in Klinga. Dieses kleine Ört­chen ist im Übri­gen der Entstehung­sort für ein­ige Kala­izis-Gemälde. Es wird deut­lich, dass die Vor­arbeit stets eine zuver­lässige Logistik erfordert, beis­piels­weise wenn sch­eun­entor­große Baum­wurzeln in ein­en höhergele­gen­en Stock eines Gebäudes geschafft wer­den müssen; wenn metertiefe Gruben aus­ge­hoben wer­den müssen, nur um diese für ein­ige vorläufige Foto­grafi­en mit Nebel und blauem Licht zu fül­len; oder gar wenn lebendige Tiere zu beschaf­fen sind.


Aus derart per­son­al­in­tens­iven Aktion­en baut Aris Kala­izis ein Invent­ar, das die Basis für die Kom­posi­tion­en bil­det. So fol­gt ein­er bewegten Phase, eine unend­lich geduldige Phase, dar­in die maßgeb­lichen Bewe­gun­gen jene sind, die die Hand des Malers an der Staffelei tut.

Aris Kalaizis | Haus ohne Menschen | Öl auf Holz | 41x62 cm | 2013
Aris Kalaizis | Haus ohne Menschen | Öl auf Holz | 41x62 cm | 2013

Bio­grafis­che Genese vis­ionärer Augenblicke


Am Anfang, die Flucht. Seine Eltern ent­fliehen dem griech­is­chen Bür­gerkrieg (1947−49). Ihre Odyssee führt sie 1949 in die sowjet­isch beset­zte Zone nach Leipzig, wo Aris Kala­izis 1966 geboren wer­den wird. Es ist viel­leicht schwer zu ermessen, was die Gewalt ein­er sol­chen Kind­heit, an frühen Erfahrungen her­vorzubrin­g­en ver­mag. Erken­nt­nis, gewiss. Immer unter­schwellig zu spüren, dass der Rah­men der Dinge schief hängt, an der Wand des Lebens, wo alle ander­en ihren recht­en Winkel kennen. Gleicht jene Reise ein­er jun­gen Migranten­fam­ilie in der DDR nicht auch ein­er Fahrt zwis­chen Sky­lla und Charyb­dis? Immer wis­send, dass die eigene Pos­i­tion quer steht. Und dann gravi­er­ender: Für den Her­an­wach­senden, unverken­nbar zu begre­ifen, dass die Grundp­feiler, auf den­en die neue Heimat steht, eben­falls auf Sand gebaut sind, dass sie umgestürzt wer­den müssen, oder von alleine ein­stürzen wer­den, und dass für ihn, den Künst­ler, die Reise hin zu seinem Selbst von Neuem ein­set­zen wird.

Schon die Bio­graph­ie dieses Malers ver­weist auf eine außer­or­dent­liche und kontinu­ier­liche Frage nach dem Selbst. Was bin ich, durch alle diese Situ­ation­en, dar­in ich weder fremd noch heimisch bin? Dieses immer­fort in Frage ges­tell­te Ich, welches zwar ein­en Namen hat, aber als Frage unbeant­wor­tet bleibt … dieses Ich wird sich nicht als Defekt erweis­en, son­dern als ein empfind­liches Sen­sori­um behaupten.


Dah­er auch die unsäg­liche Mel­an­cholie in sein­er Arbeit, die zwis­chen Trauer und Hoffnung, zwis­chen Ver­lust und Selb­st­gewinn aufgespan­nt ist, wie die Saiten ein­er äol­ischen Harfe. Mel­an­cholie meint in Bezug auf Aris Kala­izis aber keineswegs düstere Resig­na­tion. Viel­mehr ist die Mel­an­cholie das Maß sein­er Tiefe, die Sens­ib­il­ität sein­er genu­in­en Gefühlsprä­gung. Und diese Mel­an­cholie macht auch seine unge­heure Mod­ern­ität aus, die keineswegs auf den falschen Gewis­sheiten der Ver­gan­gen­heit steht, son­dern immer bereit ist, dem Ungewis­sen ein­en malerischen Entwurf zu gewähren.


Kein­er falschen Gewis­sheit aufzuer­lie­gen, macht ihn ver­schieden von so mach einem Meister­schülers seines Lehr­ers Arno Rink und ein­i­gen ander­en Malern aus der Neuen Leipzi­ger Schule, die die nackte Authen­t­iz­ität des Gemüts häufig zu ver­deck­en suchen hinter den kon­ven­tion­el­len Sym­bol­ismen der Kun­st­geschichte des Anti­kisier­ens, des Mediäval­is­ier­ens, des ungebrochen­en Wieder­herauf­beschwörens. Kala­izis sucht aber das Gegen­teil: Er ver­sucht nur jenes aus­zudrück­en, was durch sein Erleben gedeckt ist. Seine Bilder sind dah­er invest­iert mit Existenz, aufge­laden mit dem lebens­geschicht­lichen Ver­mö­gen eines Menschen, der sein Leben der Kunst ver­macht hat.


Als ihn ein ein­jähriges Sti­pen­di­um in die Ver­ein­igten Staaten führt, sind die New York­er fasziniert, obwohl er die sta­bil­it­as loci bevorzugt, wie die mit­telal­ter­lichen Mönche, die von an einem festen Ort aus zu wirken wün­scht­en, führen inter­na­tionale Sammlungen ihn bald als ihren Gast in alle Winkel der Erde. Sein Werk wird viel­fach aus­gezeich­net. Im Jahre 2010 etwa wird er zur 12. Mostra Internazionale die Achitettura nach Vene­dig eingeladen.


So sehr das Erzäh­len ein wesent­liches Moment in den Arbeiten des Malers darstellt, so sehr sucht er immer wieder die Nähe zu Nar­rat­iven aller Art: Beis­piels­weise regen­er­iert er sich immer wieder an der Lit­er­at­ur, Diderot, Emmanuel Bove und Thomas Bernhard zäh­len zu sein­en lit­er­ar­ischen Weg­beg­leit­er. Auch die Bühnen­bilder des Theat­ers oder die Kulis­sen des Films ver­fol­gt Kala­izis mit großer Leidenschaft, sodass es keineswegs ein under­state­ment wäre, ihn als ein­en Cine­ast zu bezeichnen.


Lang­samkeit und Geduld, Wendepunkt und Erzählung, Mel­an­cholie und Entscheidungs­mächtigkeit des Momentes: Diese Begriffe charak­ter­is­ier­en das Werk von Aris Kala­izis jedoch nur vorläufig und annährend. Für manche gilt der griech­is­che Leipzi­ger als „der Maler des Lichts.“ Andere wie­der­um stel­len die Ein­z­igartigkeit seines Zugangs zur malerischen Tätigkeit in den Vorder­grund. Gleich­wie, in einem Punkt stim­mt die Schar sein­er Verehr­er und die sein­er Ver­ächter überein: Die Begegnung mit seinem malerischen Werk ver­ändert, ver­rückt und ver­wan­delt den Betrachter, indem sie ihn in die Mitte des Bildes hinein­zieht; so kon­tro­vers seine Gemälde auch sein mögen, so faszini­er­end und span­nungs­ge­laden sind sie zugleich.

(Quelle: Ostrage­hege Heft 1/2013 Nr. 69)


©2013 Paul-Henri Camp­bell, Aris Kalaizis

Paul-Henri Camp­bell wurde 1982 in Boston geboren. Der deutsch-amerik­an­is­che Lyriker stud­ierte Klassis­che Philo­lo­gie und kath­ol­ische Theo­lo­gie an der Nation­al Uni­ver­sity of Ire­land und der Goethe-Uni­versität in Frankfurt/​Main. Gegen­wärtig pro­moviert er an der Hoch­schule der Jesuiten, Sankt Geor­gen, in Frankfurt/​Main. Er schreibt Lyrik in eng­lischer und deutscher Sprache. Seit März 2013 ist er Mit­glied der Redak­tion der Zeits­chrift DAS GEDI­CHT. Bereits erschien­en Gedi­cht­bände: ›duk­tus oprandi‹ (2010) und ›Space Race‹ (2012). Im Herbst 2013 beschließt der Gedi­cht­band ›Am Ende der Zei­len‹ seine Tri­lo­gie ›Sound­ing out Today.‹

© Aris Kalaizis 2024