Aris Kalaizis

Die Heimat der Wörter

In ein­er zweiten Annäher­ung ihr­er Tri­lo­gie unter­sucht die in Köln lebende und nach Lacan und Freud prak­t­iz­i­er­ende Psy­chona­lytiker­in Fotini Ladaki das Werk Aris Kalaizis' unter dem Aspekt ein­er stammes­geschicht­lichen Ikono­graph­ie anhand der Gemälde "Das Ritu­al" und "Das Band".

Aris Kalaizis "Das Band" 2013
Aris Kalaizis "Das Band" 2013

„Und Gott befiehlt mir, dass ich male.“
(Rilke: „Das Stundenbuch“)


Ein riesiges Baum­wurzel­werk inmit­ten eines Wohnzi­m­mers. Dah­inter eine beo­bachtende Frau, dav­or ein Mann in Aktion: Szene ein­er einge­froren­en Momen­tauf­nahme. Viele Assozi­ation­en, die dieses Bild her­vor­rufen und die dam­it ein­herge­henden Sig­ni­fik­anten strö­men einem ent­ge­gen. Die Sig­ni­fik­anten schmuggeln sich auch in die geflü­gel­ten Worte der Volk­s­weisheiten ein. Diese wer­den oft kolpor­tiert und gep­flegt. Han­delt es sich nun bei den Bildern „Das Ritu­al“ (2008) sow­ie „Das Band“ (2013) um eine ikono­graph­is­che Abbildung der eigen­en, leibhafti­gen Wurzel?


Han­delt es sich um den Tat­be­st­and des Wurzelsch­la­gens, etwa um die eigene Stammes­geschichte verorten zu können oder han­delt es sich um die Abstam­mung oder um den eigen­en Stammbaum? Ist dieser abgeschnittene Stumpf auf beiden Gemälden eine ima­ginär-bild­hafte Hyper­meta­ph­er für die ver­lorengegan­gen Verwurzelung? 


Geschichte und die Herkun­ft sind enorme Säu­len auf dem Kul­tur ber­uht. Es gibt ver­schieden­en Stämme und das Stammbuch. Gäbe es kein­en Stamm, gäbe es keine Stammes­geschichte. Gäbe es keine Wurzel, wären wir entwurzelt. Es scheint, als würden die Bilder entlang eines phon­et­ischen Mater­i­al­is­mus oder eines äqui­voken (mehrdeut­i­gen) Charak­ters der Wörter entlang laufen. Nicht umsonst hat Lacan den Begriff Mater­i­al­ität von dem fran­zös­is­chen Wort mot abgeleitet. 


„Umgekehrt bringt der Gesicht­spunkt, den ich vor Ihren aufrecht zu erhal­ten suche, ein­en gewis­sen Mater­i­al­is­mus, der dav­on bet­ro­f­fen­en Ele­mente mit sich, in dem Sinne, dass die Sig­ni­fik­anten tat­säch­lich verkörpert, mater­i­al­is­iert sind, das sind Worte, die spazier­en gehen und als sol­che üben sie ihre Funk­tion des Zusam­men­heftens aus.“
Lacan J: (1997) Das Sem­in­ar Buch III. Die Psychosen, S. 341)


Gäbe es keine Wurzel, wären wir entwurzelt

Inszen­iert Aris Kala­izis in diesen Bildern die phon­et­ische Heimat der Wörter? Als ein unbe­wusstes Motiv kön­nte die Annahme der Bio­graph­ie des Künst­lers selbst sein, die eindeut­ig in die Rich­tung der Suche nach den eigen­en Wurzeln geht. Aber jen­seits des bio­graph­is­chen trau­mat­ischen Mater­i­als inszen­iert Kala­izis womög­lich den Topos von weit­er­en uni­versell­en Phant­as­men ein­er Welt, die den Bildern anhaftet und den Wörtern voraus­ge­ht. Aber welch­er Topos kann hier gemeint sein? Wenn man sich von bestim­mten Ver­hält­n­is­sen und Zuge­hörigkeiten abge­seilt hat, fällt man zun­ächst aus dem Rah­men. Wenn die Seilschaften nicht tra­gen, wird die Ver­bindung obsol­et. Man muss ein neues Band suchen und find­en, um sich ein­er neuen Anbindung oder Zuge­hörigkeit (Heimat, Fam­ilie, Gruppe) einzuschreiben. 


Die Inhalte von Kala­izis schein­en einem Diskurs zu entstam­men, der jew­eils von der Mater­i­al­ität der Sprache und der Sig­ni­fik­anten noch ein­en ander­en Wink in der Schwebe hal­ten. Man kön­nte es mit der Welt der Ideen nach Pla­ton in Ver­bindung brin­g­en, was auch bereits Lacan in seinem Sem­in­ar Buch XI ver­sucht hat:

Aris Kalaizis "Das Ritual" 2008
Aris Kalaizis "Das Ritual" 2008

„Das Bild des Vetreters der Leipzi­ger Schule rival­is­iert nicht mit dem Schein, es rival­is­iert mit dem, was Pla­ton jen­seits des Scheins und als Idee vor­stellt. Weil das Bild jen­er Schein ist, der behaup­tet, er sei das, was den Schein gibt, steht Pla­ton auf gegen die Malerei als ein Akt­iv­ität, die mit der eigen­en rival­is­iert.“ (Lacan J.: Das Sem­in­ar Buch XI, S. 119) 


Sowohl „Das Band“ als auch „Das Ritu­al“ schein­en ein­er Spur zu fol­gen, die sich als ein akus­mat­ischer Vorläufer der Sprache zu inaugur­i­er­en ver­suchen. Er inszen­iert die Heimat der Wörter. Diese inszen­ierte Welt kann dem Realen nach Lacan zuge­sprochen wer­den. Kala­izis sucht in dem Realen nach der ele­ment­ar­en Mater­i­al­ität der Sprache und inszen­iert diese in einem irrit­i­er­enden Grotesken-Raum des Realen. 
Das Reale ist unfass­bar und unheimlich. 


Das Reale existiert neben dem Ima­ginären und dem Sym­bol­ischen. Lacan spricht von RSI, was den äqui­voken Klang der Häresie erzeugt. Viel­leicht han­delt es sich um eine Häresie, einem Wieder­spruch gegen Grundsätze, die sich im Den­ken eingesch­lichen haben, dem nun eine Häresie der Unter­wan­der­ung fol­gt und die wie­der­um eine Über-Set­zung her­stellt und nach den sokrat­ischen Geset­zen funktioniert. 


Ginge es dem­nach in diesen Gemälden eben­falls um Häresie? Um eine Häresie, die das Bild über das Wort und den Logos set­zt? War im Anfang das Bild und nicht das Wort?


Neues Band suchen, um sich ein­er neuen Zuge­hörigkeit (Heimat, Fam­ilie, Gruppe) einzuschreiben


Auch Jacques Der­rida beschäftigt sich mit dem Unter­schied zwis­chen Phonie und Graph­ie wie auch mit der Über­macht des Logozentris­mus in der west­lichen Welt. In sein­er „Gram­mato­lo­gie“ schreibt er : „Das Wesen der phone (….) stünde unmit­tel­bar dem nahe, was im ‚Den­ken‘ als Logos auf den ‚Sinn‘ bezo­gen ist, ihn erzeugt, empfängt, äußert und ‚ver­sam­melt‘“ (S. 24). Und etwas später von der Kab­bala aus­ge­hend sagt er fol­genden Satz: „(….) die intel­li­gible Seite des Zeichens bleibt dem Wort und dem Ant­l­itz Gottes zuge­wandt … Das Zeichen und die Göt­t­lich­keit sind am gleichen Ort und zur gleichen Stunde geboren. Die Epoche des Zeichens ist in ihr­em Wesen nach theo­lo­gisch.“ (S.28)


Auch Sokrates pro­pa­giert in dem Kratylos Dia­log von Pla­ton eine ähn­liche The­or­ie über die Entstehung der Begriffe und der Sprache:
“Wenn also nun das Wort dem Gegen­stand ähn­lich sein soll: so müssen not­wendig auch von Natur den Gegen­ständen die Buch­staben ähn­lich sein, aus den­en man die Stam­m­wörter zusam­menset­zen muss.“ Etwas später stellt Sokrates fol­gende These auf: „Vater ‚Zeus‘ eignet sich offen­bar dessen Name gar her­r­lich, nur ist es nicht leicht zu merken. Näm­lich ordent­lich wie eine Erklärung ist der Name des Zeus; nur haben wir ihn geteilt, und ein­ige bedien­en sich der ein­en, andere der ander­en Hälfte. 


Die ein­en näm­lich nennen ihn ‚Zeus‘, die ander­en ‚Dis‘; beide aber zusam­menges­tellt offen­bar­en uns das Wesen des Gottes , welches ja eben, wie wir sagen, ein Name soll aus­richt­en können. Denn kein­er ist für uns und alles insges­amt so sehr die Ursache des Lebens wie der Herrscher und König über alles. Ganz richtig also wird dieser Gott benan­nt als der, durch welchen zu leben aller Lebendi­gen sich rüh­men. Nur wie gesagt, der Name, der eigent­lich ein­er ist, ist geteilt in dis, von durch, und zen oder zeus von leben“. (Pla­ton: Sämt­liche Werke, Band 3, Rowohlts Enzyk­lopädie, 1994, S. 32)


Zeus kom­mt also vom dem Wort Zoe und Zoe heißt Leben. Sokrates geht auch den ander­en Göt­ter­na­men nach: 
„Wegen der ‚Aph­rod­ite‘ ist nicht Not, dem Hesi­od zu wider­sprechen, son­dern man kann ihm zugeben, sie sei wegen ihr­er Entstehung aus dem Schaume des Meeres, aphros, so genan­nt worden“. 
Sokrates bleibt nicht nur bei den Namen der Göt­ter, er geht andere Dinge eben­falls an, wenn er die Ursprüng­lich­keit der Wörter zu erklären versucht. 
„Ebenso dem­nach würden auch die Wörter nie irgendeinem Ding ähn­lich wer­den, wenn nicht zuvor jenes, woraus die Wörter zusam­menge­set­zt wer­den müssen, eine gewisse Ähn­lich­keit hatte mit dem, dessen Nachb­ildun­gen die Wörter sind. Zusam­menge­set­zt aber müssen sie wer­den aus Buch­staben?“ (Pla­ton, Kratylos. S. 81)


Kala­izis kleidet nun das mensch­liche Trauma in das Gewand ein­er nun bild­haften Gestalt der Wörter: Entwurzelt, abge­seilt, nach dem Stamm suchen, eine Stammes­geschichte haben, einem Stamm ange­hören? Stellt er dam­it die Wörter auf den Platz des Phant­asma, indem er das Phant­asma über die Wörter neut­ral­is­iert und neu zusam­menset­zt? Auf dem Bild „Das Band“ ist nicht das Seil, das durch das Bild zieht, es ist der weil­b­liche Engel, durch den es durch den Bil­draum getra­gen wird. Ist es eine Engelsarbeit, ein soziales Band zu find­en? War­um die Engel weib­lich sein müssen, sei erst­mal dah­in hinges­tellt. Immer­hin und das sei schon erwäh­nt, find­en wir in ander­en Kala­izis-Bildern auch männ­liche Engel.


Legt Aris Kala­izis aber in diesen beiden Bildern die ursprüng­liche Akus­matik der Wörter und ihr­er Entstehung bloß, als deu­ten sie von einem indi­vidu­el­len Trauma? Oder wird das Trauma in ein­en hei­li­gen Ort oder in ein­en befrem­de­ten Garten eines Realen (Garten Eden) geschoben?


Beide Gemälde zeichnen ein­en Fieber­traum, der entsteht, wenn fun­da­mentale Ereign­isse wie Bindung und Heimat in Gefahr geraten


In der griech­is­chen ortho­dox­en Ikono­graph­ie gibt es den hei­li­gen Chris­to­phor­us. Dieser Chris­to­phor­us jedoch trägt nicht Jesus auf sein­en Schul­tern wie in der kath­ol­ischen Tra­di­tion. Er trägt Jesus in sich. Und er ist ein hund­sköp­fi­ger Mär­tyrer. Ursprüng­lich soll er einem hund­sköp­fi­gen Volk am Rand Indi­ens entstam­men. Aber weil er die mensch­liche Sprache erlernte und darüber sein Mar­tyri­ums best­and, wurde er hei­ligge­sprochen. In dem Gewand eines Gen­er­als oder ein­er höher­en mil­itärischen Per­son wird er darges­tellt. Aber stets streckte er die Zunge heraus und schaute zum Him­mel. Ist aber die Zunge nicht eben­falls das Organ der Sprache? 


So schein­en die Bilder „Das Ritu­al“ und „Das Band“ ein­en Fieber­traum nachzu­bilden, der entsteht, wenn fun­da­mentale Ereign­isse wie Bindung und Heimat in Gefahr ger­aten. Zu dem Wort Heimat kann man nach Freud noch zwei weit­ere Sig­ni­fik­anten ins Spiel brin­g­en: Das Heim­liche und das Unheimliche. 


In ein­er Zeit aber, die von Massenaus­wan­der­ungen und Flucht­be­we­gun­gen geprägt ist, künden gerade diese zwei Kala­izis-Bilder von der Sphäre, wo der Alptraum und die Angst über die ver­lorene Heimat, auch das Durch­schim­mern ein­er schwebenden Hoffnung kon­stitu­ier­en. Beide Symp­tome, Angst und Hoffnung, koex­istier­en in einem aufge­laden­en, aber let­zt­lich vom Maler uner­lösten Span­nungs­ver­hält­nis. Es liegt dem­nach an uns, diesen Span­nungs­bo­gen in ein für uns frucht­bar­en Reflex zu verwandeln.


Lit­er­at­ur
Der­rida J. „Gram­mato­lo­gie“, 1983, Suhrkamp, Frank­furt am Main
Lacan J. „Das Sem­in­ar Buch III. Die Psychosen“, 1997, Quad­riga Ver­lag, Wein­heim, Berlin.
Lacan, J: „ Das Sem­in­ar Buch XI. Die vier Grundbe­griffe der Psy­cho­ana­lyse“, 1987, Quad­riga Ver­lag, Wein­heim, Berlin
Pla­ton: Sämt­liche Werke, Band 3. 1994, Rowohlts Enzyk­lopädie, in Rowohlt Taschen­buch Ver­lag, Rein­bek bei Hamburg

Fotini Ladaki, fotografiert von Anna Papoulias ( Tochter des ehemaligen griechischen Staatspräsidenten Karolos Papoulias)
Fotini Ladaki, fotografiert von Anna Papoulias ( Tochter des ehemaligen griechischen Staatspräsidenten Karolos Papoulias)

Fotini Ladaki, geb. 1952 in Nord­griechen­land, ist Psy­cho­ana­lytiker­in (nach Lacan und Freud) und arbeitet in ihr­er Prax­is in Köln. 


Darüber hinaus arbeitet sie rege als freie Autor­in. So ver­fasste sie neben vielen Essays über Kunst und Psy­cho­ana­lyse, Theat­er­stücke, Erzählun­gen und Lyrik auch ein Essay über Ger­hard Richter „Mor­itz“. Über den Schreck­en der Dasein­ser­fahrung oder etwa „Freud kam nach Parla-Dora“. Ihre weit­er­en Pub­lika­tion­en sind unter fol­gender Web­seite zu find­en: www.praxisfls.de


©2017 Fotini Ladaki | Anna Popouli­as | Aris Kalaizis

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