Aris Kalaizis

Das Rätsel des Selbst als Augen-Täuschung

In ein­er weit­er­en Bildan­näher­ung nim­mt sich die Psy­cho­ana­lytiker­in Fotini Ladaki dem Kala­izis-Gemälde "Kairos" an. Anhand dieses Bildes unter­sucht die Autor­in den man­nig­falti­gen Wett­streit mensch­lich­er Wahrnehmun­gen in Bezug zu dem, was wir gemein­hin als Wirk­lich­keit bezeichnen.

Aris Kalaizis | Kairos | Öl auf Leinwand | 100 x 180 cm | 2017
Aris Kalaizis | Kairos | Öl auf Leinwand | 100 x 180 cm | 2017

„Ich habe eine Krankheit: Ich sehe die Sprache“
(Roland Barthes)


„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ 
(Sokrates)


Kairos. Auf diesem Bild von Aris Kala­izis’ sitzt ein Ich sich selbst gegenüber: Mal von der linken, mal von der recht­en Seite. Dah­inter eine Spiegel­ung der beiden Prot­ag­on­isten. Ein Haupt ist mit einem Schlei­er bedeckt. Mal ist seine Pro­fil­ansicht vom Schat­ten über­schat­tet. Mit den Augen fix­i­er­end schein­en beide (Das Ich und das Selbst) ein­en Angriff oder ein­en wetteifernden, krit­ischen Blick auf sich zu starten. Eine Paragone?


Um was geht es bei diesem Wett­streit? Der Maler der Leipzi­ger Schule lädt uns offensicht­lich ein, diesem selb­streflex­iven Schaus­piel beizu­wohnen? Über­haupt scheint die Par­al­lele zu einem Schaus­piel, einem Theat­er tref­fend. Alles Wesent­liche scheint in dieser selb­streflex­iven Unternehmung darges­tellt, alles Unwesent­liche nicht sicht­bar. Und der Betrachter? Mit wem soll er in Bez­iehung treten? 


Hyper­meta­ph­er mensch­lich­er Täuschung


Soll­te sich der Betrachter anstelle der darges­tell­ten Sub­jekte wähnen? Ist dieses Bild eine Hyper­meta­ph­er mensch­lich­er Täuschung, der Augentäuschung, die nach Lacan ein wichti­ger Best­andteil der Malerei ist? 


In der Kun­st­geschichte ver­han­delt Par­agone den Wett­streit der Kün­ste, vor allem den Wett­streit zwis­chen der Malerei und der Bild­hauerei, Par­agone delle arti. Diese Aus­ein­ander­set­zung fand vornehm­lich in der Renais­sance, wie auch im frühen Barock statt. Aber um welchen Wett­streit kann es bei dem Bild von Aris Kala­izis gehen?

Hans Holbein d.J. | Die Gesandten | 1533
Hans Holbein d.J. | Die Gesandten | 1533

Geht es womög­lich um die Schaulust und den Wett­streit zwis­chen Auge und Blick? 


Denn Auge und Blick sind nach vielen Philo­sophen und Psy­cho­ana­lytikern zwei getrennte Entitäten, obwohl sie das Sehen, das Gese­hen-wer­den und die Schaulust (skopis­cher Trieb) umkreis­en. Das Sub­jekt der Sprache ist nicht ein­heit­lich, son­dern gespalten. 


Diese Teilung des Sub­jekts real­is­iert sich auf dem Feld des Sehens in zwei For­men: das Sehen, das auf dem Auge ber­uht und das Sehen, das in einem Blick mün­det. Insofern kön­nte man den Bildtitel „Kairos“ mit Augen­blick übersetzen? 


Auch das Bild von Hans Hol­bein „Die fran­zös­is­chen Ges­andten“ ist ein Mus­ter­beis­piel für die Teilung von Auge und Blick wie auch für das Phäno­men der Ana­morphose. Ana­morphosen sind Umfor­mun­gen, die ein­en Spiegel zur Entschlüs­se­lung von Bildern benötigen.


Bereits 1709 schrieb George Berke­ley in sein­er The­or­ie über das Sehen den Spruch esse per­cipi est. Für ihn existiert das Sein durch das Wahrgenommenwerden. 


Auch Lacan hat sich in seinem XI Sem­in­ar intens­iv mit dem Auge und dem Blick und auch bezüg­lich der Malerei und allge­mein­er des Bildes/​Tableaus befasst: Nach Lacan sind wir in dem Schaus­piel der Welt angeschaute Wesen. Man sieht nur von einem Punkt aus, wird aber von allen Seiten erblickt. 


Der Blick kann aber auch mit einem bösen Blick zu tun haben und erzeugt nach Sartre in dem erblick­ten Sub­jekt Scham. Lacan spricht den Blick dem Äußer­en zu, während er das Sehen und das Auge auf das geo­metrale Sehen konzentriert. Dem Blick spricht er somit eine Präex­istenz zu. 


„Die Funk­tion des Bildes – bezo­gen auf den, dem der Maler, buch­stäb­lich, sein Bild zu sehen gibt – bez­ieht sich auf den Blick. Diese Bez­iehung ist nicht, wie man zun­ächst viel­leicht mein­en kön­nte, eine Blickfalle. 
Man kön­nte glauben, der Maler habe es wie der Schaus­piel­er auf ein Hast-du-mich-gese­hen abgese­hen, als wün­sche er sich, betrachtet zu werden. 
Und ich glaube es nicht. Ich glaube zwar, dass auch ein Blick­ver­hält­nis , wie es zumeist unter Liebenden gesucht wird, entstehen kann. Aber let­zt­lich ist dieses Ver­hält­nis kom­plex­er­er Natur. 


Der Maler gibt demjeni­gen, der sich vor sein Bild stellt, eine Aufgabe, die sich viel­leicht sim­pel so zusam­men­fassen kön­nte: Du willst also sehen. Wenn dem so ist, so sieh dieses! Es gibt etwas, das eine Augen­weide ist, das dein­en Blick let­zt­lich weiten könnte. 


Gleich­sam gibt es eine unaus­ge­sprochene Ver­suchung, den Blick des Malers im Betrachters zu deponier­en, als würde man Waf­fen deponieren. 


Die Selb­st­be­trach­tung nicht sel­ten ein­er gewis­sen Augen-Täuschung unterliegt


Schon bei der ersten Annäher­ung sehen wir, dass in der Dialektik von Auge und Blick nicht Koin­zidenz herrscht, son­dern zutiefst Trug/​leurre. …Umgekehrt ist das, was ich erblicke, nie das, was ich sehen will. 


Das Ver­hält­nis von Maler und Kunst­liebhaber, von dem ich eben sprach, ist was immer man sagen mag, Spiel, Augentäuschungsspiel. Es geht eigent­lich um die Täuschung des Auges. Über das Auge tri­umph­iert der Blick.“ (J. Lacan: „Das Sem­in­ar Buch XI. Die Vier Grundbe­griffe der Psy­cho­ana­lyse“, S. 107 – 109) 


Dem­nach scheint es, als würde das Kala­izis’ Gemälde diesen Wett­streit gewinnen. Der Blick siegt über das Auge, indem es den Betrachter in eine Augentäuschung hinein­zieht. Diese Augentäuschung scheint aber auch von dem Titel unter­stützt zu werden. 
Denn der Titel des Bildes lautet „Kairos“. Dieser Titel evoziert zun­ächst viele Fragezeichen. Denn der Anblick löst das Tableau ganz ander­er Assozi­ation­en aus. Titel wie: “Das Rät­sel des Selbst“ oder „Das ver­borgene Ich“ oder aber auch „Ich-sehe-mich“ schein­en ebenso möglich. 


Am Anfang besteht eine gewisse Unles­barkeit für das Auge. Denn was gese­hen wird, bleibt den­noch im Rät­sel­haften. Mög­lich ist aber auch, dass Unles­barkeit das Ziel des Demi­ur­gen ist? Bietet uns Aris Kala­izis eine Augen-Täuschung, ein trompe l´oeil an? Dem­nach soll­te man auch dem Begriff des Selbst nachge­hen, ob die Selb­st­be­trach­tung nicht sel­ten ein­er gewis­sen Augen-Täuschung unterliegt. 


Die Anwesen­heit eines kon­stanten Ichs in Frage gestellt


Denn das Selbst bietet keine abso­lute Ein­heit, da das Sub­jekt der Sprache ein geteiltes und in sich gespaltenes ist. Mit dem Chorlied „Nicht geboren zu sein, über­trifft / alle Ver­nun­ft“ in Ödipus auf Kolonos von Sophokles wird die Seins-Leere besun­gen. Sokrates hat diese Leere anders aus­gedrückt. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. 
Freud spricht über den Her­rn im eigen­en Haus, wo er doch nicht ist, da das Unbe­wusste es beherrscht. Dam­it wird die Anwesen­heit eines kon­stanten Ichs in Frage gestellt. 


Auch Niet­z­sche in seinem Nachlass spricht von dem “Sub­jekt als Viel­falt“ und als „Ren­dez-vous von Per­son­en“. Denn die hal­luzinierte Sich­er­heit eines Ichs, die aus dem Schein des Körper­bildes oder eines ihm zuge­sprochen­en Namens kon­stitu­iert wird, wird keine exist­en­ti­elle Sich­er­heit des Seins eines sprechendes Sub­jekts entstehen. 
Man kreiert ein­en Schein, eine Fiktion, eine Leer­stelle, die immer wieder neu aus­ge­füllt wer­den muss. Lacan hat diese Unein­heit des Sub­jekts mit dem corps mor­celé (zer­stück­el­ten Körp­er) verglichen.


„Was Hegel die „Nacht der Welt“ nen­nt (das phant­as­mat­ische und präsym­bol­ische Gebiet der Par­tial­triebe) ist eine unleug­bare Kom­pon­ente der radikalen Selb­ster­fahrung des Sub­jekts, die unter ander­em in den gefeier­ten Bildern des Hieronymus Bosch illus­triert wird.“ (Sla­voj Zizek: Die Tücke des Sub­jekts, S.52)


Nicht umsonst hat Schelling behaup­tet, dass die nor­male Ver­nun­ft ein „reg­uliert­er Wahnsinn“ sei. 
Auch die ständi­gen Ver­wand­lun­gen unseres Bewusst­seins lassen eine kon­stante Iden­tität und Ein­heit als Fiktion erschein­en. Dah­er kon­nte man das Werk von Beck­ett „Der Namen­lose“ als Hyper­meta­ph­er für die fiktionale Iden­tität des sprechenden Sub­jekts herhalten. 


Schelling behaup­tet, dass die nor­male Ver­nun­ft ein „reg­uliert­er Wahnsinn“ sei


Auf ein­er myth­o­lo­gis­chen Ebene kon­nte man „das ver­borgene Ich“, das in der psy­cho­ana­lyt­ischen Sprache mit dem Unbe­wussten über­set­zt wer­den kann, sich als ein tro­jan­is­che Pferd vor­stel­len, dass jeden Tag in uns heim­liche Ein­tritte und Angriffe vorn­im­mt, um unser angeb­lich so unan­nehm­bares Troja (Bewusstes) in Besch­lag zu neh­men und zu okkupier­en, ohne dass die Tro­jan­er ihm zeit­lich Wider­stand leisten können. 


Und natür­lich: Das tro­jan­is­che Pferd ist eben­falls das Sym­bol der List. Diese List jedoch impliz­iert weder die Hin­ter­l­ist noch die Arg­list, son­dern gilt, wie Harro von Sen­ger in seinem Buch „Die Kunst der List“ berichtet, als die höch­ste Form der Klugheit. Er betrachtet die west­liche Welt unser­er Zeit als listen­blind, da der Begriff sehr stark neg­at­iv kon­notiert ist. Im anti­ken Griechen­land war sie auch vorhanden, wie die Erfind­ung des tro­jan­is­chen Pferdes beweist. 


Oder ist es viel­leicht anders, als wir zu sehen mein­en? In der Tat gibt es eine Welt, aber viele Wirk­lich­keiten. Welche Wirk­lich­keit man sieht, hängt nicht zulet­zt vom Schlüs­sel­loch ab, durch das man blickt. Man kann die vielschichtige Welt durch ver­schieden­en Bril­len betracht­en.“ (Harro von Sen­ger: „Die Kunst der List“, S. 41)
Das Ich und das Selbst sind nun optische Täuschun­gen. Wenn wir ihnen gerade in die Augen schauen wollen, ent­deck­en wir die Frem­d­heit, die uns ins Gesicht lacht und zugleich auslacht. 


Eine Welt – Viele Wirklichkeiten


Genauso gut soll­te man eben­falls, dem Wesen des Sig­ni­fik­anten Kairos nachge­hen. Extrah­iert man aus ihm die Bedeu­tung des gün­sti­gen Augen­blicks, dann wird man wieder mit den Sig­ni­fik­anten Augen-Blick kon­fron­tiert, der in sich die zwei bereits erwäh­nte Begriffe Auge und Blick bein­hal­tet. Über die Par­agone des Streit­paares Auge/​Blick haben wir bereits berichtet. 


Gre­ift man noch­mal das Wort Kairos auf, weiß man, dass er nicht identisch mit Chro­nos ist, der die Mess­barkeit der Zeit im Auge behält. In der griech­is­chen Myth­o­lo­gie war Kairos der per­son­i­f­iz­ierte Gott des gün­sti­gen Augen­blicks, des gün­sti­gen Zeit­punktes und der nicht ver­passten Entscheidung. Wenn man diesen Augen­blick ver­passt, kom­mt es zu nachteili­gen Ereign­is­sen und womög­lich auch unüber­wind­bar­en Ver­lusten. Ursprüng­lich entstam­mte Kairos nicht der olympis­chen Gene­a­lo­gie. Erst durch Lysipp, der Hof­b­ild­hauer Alex­an­der des Großen, wurde Kairos in den Olympis­chen Him­mel als der jüng­ste Sohn Zeus auf­gen­om­men und neben Her­mes, dem schnel­len Göt­ter­boten, der Tyche und der Nemes­is platziert. 


Wenn man den Augen­blick ver­passt, kom­mt es zu nachteili­gen Ereignissen


In Wiki­pe­dia wird ein poet­ischer Dia­log zwis­chen dem Betrachter und Kairos wiedergegeben, der von Pos­eidon von Pella als ein Epi­gramm ver­fasst worden ist.
Auf Zehen­spitzen laufen, schnell wie der Wind sein, Haar­locke an der Stirn, spitzer als ein Mess­er, kahler Hin­ter­kopf, sind die wichtig­sten dem Kairos zuges­chrieben­en Eigenschaften. Zum Schluss dieses Epi­gramms kom­mt es zur Frage:


“Und wozu schuf euch der Künstler?
Euch Wan­der­ern zur Belehrung.“


Kairos selbst ist nun das Produkt des Künst­lers? Oder besagen und impliz­ier­en seine erwäh­nten Eigenschaften noch etwas anderes, als das was man bis jet­zt nur mit dem gün­sti­gen Augen­blick ein­er ima­ginären Zeit­lich­keit in Ver­bindung geb­racht hat? Auch in der Psy­cho­lo­gie kom­mt das Wort Kairos vor in dem Begriff Kairo­phobie vor. Dam­it ist die Angst gemeint, Entscheidun­gen zu fällen. 
Ist das unter ander­em auch das Begehren von Aris Kala­izis bei diesem Bild? Jede festgelegte Entscheidung wäre ein Irrtum, eine Illu­sion und eine Verken­nung. Denn nur eine Deu­tung ver­dirbt jede Bedeutung. 
„ …hüte dich vor einem Sig­ni­fik­anten, der Dich auf die Autor­ität ein­er ein­zi­gen Bedeu­tung und ein­en Sinn zurück­führen will.“ (H. Cix­ous: „Das Lachen der Medusa“, S. 59)


Lit­er­at­ur:


Cix­ous Hélene: „Das Lachen der Medusa“: Heraus­gegeben­en von Esth­er Hut­f­less, Ger­trude Postl, Elisa­beth Schäfer, Pas­sagen Ver­lag, 2013
Sen­ger von Harro: „Die Kunst der List. Strategeme durch­schauen und anwenden“, C.H. Beck, 2016
Lacan Jacques: Das Sem­in­ar Buch XI. Die vier Grundbe­griffe der Psy­cho­ana­lyse“, Quad­riga 1987
Zizek Sla­voj: „Die Tücke des Sub­jekts“, Suhrkamp, 2001

F.L. zwischen mehreren Wirklichkeiten ©2018 Fotini Ladaki
F.L. zwischen mehreren Wirklichkeiten ©2018 Fotini Ladaki

Fotini Ladaki was born in north­ern Greece in 1952. A psy­cho­ana­lyst after Lacan and Freud, she works in her own prac­tice in Cologne. She is also a freel­ance writer. In addi­tion to sev­er­al essays on art and psy­cho­ana­lys­is, plays, stor­ies and poetry, she has also writ­ten ‘Mor­itz’ by Ger­hard Richter. About the hor­ror of see­ing the exper­i­ence of being. Her oth­er pub­lic­a­tions can be found on www.praxisfls.de.


©2018 Fotini Ladaki | Aris Kalaizis


Über­set­zung: Chris Abbey

© Aris Kalaizis 2024