Über Messianismus im Werk von Aris Kalaizis
Prof. Dr. August Heuser zeichnet in seinem Essay eine Parallele zwischen Paul Klee's "Angelus Novus" und Aris Kalaizis' Bild "make/believe". Darin unterstellt er u.a. beiden Künstlern einen messianischen Impuls, der gegen ein materialistisches Geschichtsverständnis aufbegehrt.
Die Frage nach dem, was Wirklichkeit sei, wird vielfach beantwortet, und doch bleibt sie eine der schwierigsten Fragen der Philosophiegeschichte. Was ist es, „was die Welt im Innersten zusammenhält“? Wie, so kann man fragen, konstituiert und konstruiert sich Wirklichkeit? Woher nehmen wir sie in unserer Welt?
Natürlich, Antworten sind in ihrer Summe vieldeutig und nur vereinzelte Antworten wissen zu überzeugen, obgleich Positivismus und Materialismus schon immer zur gegenteiligen Annahme verführen wollen.
Sottorealismus
In der idealistisch-platonischen Philosophie konstituiert sich Wirklichkeit von oben her, also von einer Idee. Das Wort Metaphysik kann auch mit jenseits, hinter oder über der Physik übersetzt werden. Dabei geht die Philosophie davon aus, dass es sich um ein Übersinnliches handelt, was nicht in der Welt als Ding in Erscheinung tritt. Es ist stets ein Verheißendes, was die jüdische Theologie messianisch nennt.
Die amerikanische Kunsthistorikerin Carol Strickland nennt in der Buchpublikation „Rubbacord“[1] im Hinblick auf Kalaizis’ Leipziger Bilder den britischen Autor Harold Pinter, dessen Stücke von „dunklen Hinweisen und bedeutungsschweren Anregungen“, den Zuschauer im Ungewissen lassen sollen „zu welchen Schlüssen sie kommen sollen“. An anderer Stelle meint sie, der Betrachter sei vom Künstler eingeladen „unter der Oberfläche zu suchen, sich einzulassen auf die im Bild verborgenen Hinweise, wie ein Archäologe auf der Suche nach vergangenen Zivilisationen“. Diesen Untergrund nennt sie Sottorealismus.
Mit Sottorealismus können wir vielleicht nun alles auf den Begriff bringen, was unterhalb der Realität steht, was also nicht von oben Realität konstruiert, ihr gleichsam etwas überstülpt, sondern was von unten trägt und erst von der Unterwelt alles weitere ermöglicht. Es sind sozusagen die Grundstrukturen von Wirklichkeit, ihre Gründungen und – im Wortsinn – fundamentalen Bedingungen.
Dabei stellt sich nun die Frage, ob Wirklichkeit sich nicht nur von oben her konstituiert, sondern auch von unten. Wenn es den Begriff Surrealismus und das damit Gemeinte als Übersinnliches gibt, dann ist zu fragen, ob es Sottorealismus als ein unter dem Sinnlichen Liegendes gibt. Die „Caprichos“ von Goya zielen in diese Richtung. Sie legen die Substruktur des Seins frei und zeigen, worauf sich Wirklichkeit bezieht und woraus sie erwächst. Es wird beschrieben mit dem Dualismus von Vernunft und Phantasie, ist aber mit einem Titel aus dem Werk besser beschrieben: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Ist also, so kann man fragen, der Schlaf der Vernunft deren Vorzustand und könnte damit der Vorzustand der Wirklichkeit insgesamt gemeint sein, also das, was sich unter der Wirklichkeit verbirgt?
Die Realität der Menschen und der Engel
In dem 2009 gemalten Bild Make/Believe nimmt der Vertreter der Leipziger Schule, Aris Kalaizis, zwei Realitätsbehaupter – ein selbsterstelltes Foto sowie ein Bild aus einer Tageszeitung – zum Ausgangspunkt seiner Bildwelt. Dieses zeigt Papst Benedikt XVI. durch eine weit geöffnete Tür einen Raum, vielleicht im Vatikan, betretend unter einer Lichtkuppel, die Hände hoch haltend zur Begrüßung vielleicht einer Pilgerschar oder einer Abordnung, vielleicht auch nur der Betrachter des Bildes.
Ihm folgen im Türrahmen drei Bischöfe, dahinter weltliches Personal. Auf der linken Seite des Bildes steht ein Schweizergardist, auf der rechten Seite steht im Straßenanzug eine Engelsgestalt mit großen Flügeln. Der männliche Engel mit eigentümlich zeitgemäßer Kleidung, der mit der linken Hand seinen Hemdknopf oben an seinem Hals öffnen will, zeigt mit der ausgestreckten Rechten streng auf den Boden.
Die wesentlichen symbolischen Signale des Bildes kommen von der Lichtkuppel, die Licht von oben in den Raum ergießt, und von der Engelsgestalt und ihrem Hinweis auf den Fußboden. Freilich findet das Auge des Betrachters nichts auf dem Fußboden, was den deutlichen Hinweis des Engels rechtfertigen könnte. Auf was also zielt die englische Geste, die die andere Seite des Himmelslichtes bestimmt?
Der Titel des Bildes „make/believe“ zitiert zwei Haltungen des Menschen in der Welt: Das Tun und Machen, das den Materialismus des Menschen prägt, und das Glauben als das Wissen um Geistig-Spirituelles in dieser Welt. Einer spirituellen Interpretation der Welt möchte man das Himmelslicht und die Papstgestalt zuordnen. Glaube ist doch gemeinhin eine Frage des Himmels und nicht einfach von Menschen herzustellen – auch nicht vom Papst. Es bleibt immer ein übernatürliches Ereignis.
Der Himmelsbote ist einer Zwischenwelt zuzuordnen. Er kommt vom Himmel, doch seine Geste verweist auf die Erde und damit auf den Ort des Schaffens und Machens. Es scheint, dass auch aus Schaffen und Machen ein spirituelles Licht zu schlagen ist und dass die beiden so unterschiedlichen Sphären Himmel und Erde (oder Hölle) dann doch zusammengehören – was die These von Papst Benedikt, Glaube und Vernunft gehörten zusammen, bestätigen würde.
Paul Klee hat im Jahre 1920 seinen „Angelus Novus“, seinen „neuen“ Engel oder „jungen“ Engel, gezeichnet. Diese Zeichnung erwarb Walter Benjamin im Jahre 1921. Seine Frau Dora schenkte ihm schon ein Jahr vorher Klees Zeichnung „Vorführung des Wunders“ (1919), die Benjamin auf Klee aufmerksam und zu einem Verehrer seiner Kunst machte. Den „Angelus Novus“ übernahm Benjamin als Engel der Geschichte in seinen Text „Über den Begriff der Geschichte“ (1940).
Benjamins Text ist ein geschichtsphilosophischer oder geschichtstheologischer Essay mit messianischem Anspruch. Er spricht gegen ein materialistisches Geschichtsverständnis, von einem messianischen Impuls in der Geschichte der Menschheit. Im Spannungsbogen von Philosophie und Theologie steht auch das Bild "make/believe" von Aris Kalaizis: in der Spannung zwischen dem vom Himmel inspirierten Papst und dem auf die Erde verweisenden Angelus. Kalaizis’ Angelus verweist wie der von Klee auf das Darunter und zeigt auf die Substruktur unserer Wirklichkeit, auf das, was unter der Wirklichkeit verborgen liegt, und versucht daraus Sinn zu gewinnen. Beide erschließen neue Sinnfelder.
Walter Benjamins Essay ist sicher nicht gänzlich auf das Bild von Aris Kalaizis zu übertragen. Dennoch weist er in die Richtung einer fruchtbaren Deutung. Es ist schon erstaunlich, dass Klee wie Kalaizis die Figur des Engels für ihre Bildfindungen fruchtbar gemacht haben. Für beide Künstler steht der Engel in seinem Verweischarakter zwischen Himmel und Erde, also zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren der Welt, zwischen unten und oben, gestern und heute – immer vor der Zukunft, die uns Fortschritt vorgaukeln will. Kalaizis’ Angelus novus verweist auf den Grund dessen, was unsere Welt ausmacht. In diesem Gedankengang konnte deshalb der Jude Gershom Scholem, Freund von Walter Benjamin, den Angelus Novus als Botschafter der Kabbala deuten, der Botschaft von der Entsprechung von oben und unten.
Das Wunderbare als Wirklichkeit sehen
Auch das großformatige Gemälde Die Stunde der Entweltlichung (2012) enthält im Titel ein Zitat von Papst Benedikt XVI. Das Wort „Entweltlichung“ entstammt seiner Freiburger Rede, gehalten bei seinem letzten Deutschlandbesuch 2011. Der Begriff „Entweltlichung“ erregte damals großes Aufsehen, wurde es doch verstanden als eine Forderung an die Kirche und deren Repräsentanten, auf weltliche Strukturen und Optionen zu verzichten und sich mehr dem Geistlichen zu widmen. Demnach ging es also in dieser Rede um die Gegenüberstellung von weltlichem und geistlichem Leben.
Mit Klees Titel könnte man das Bild auch „Vorführung des Wunders“ nennen. Aris Kalaizis zeigt in seinem Bild den Tresen einer Bar im Rotlichtmilieu mit einer bezeichnenden, himmlisch-blauen Leuchtschrift „Wunderbar“. Dieser Verweis ist in der Tat doppeldeutig. Das Wunder als des Glaubens liebstes Kind und die Bar als der Inbegriff des weltlichen Lebens – Alkohol, Amusement, Freizeit, Ichbezogenheit, die große Welt – all das schwingt in diesem Begriff mit. Der Begriff ist geerdet und schwer mit Leben gefüllt. Freilich ist die Bar immer auch ein Sehnsuchtsort, jenseits des Alltags, ohne dessen Bindung.
Zwei Männer stehen am Tresen. Wahrscheinlich ist es schon frühmorgens. Der Tag dämmert herauf. Der Wirt im Unterhemd hat den Tresen schon gewischt, die Tageszeitung liegt bereit. Ist darauf ein geistlicher Würdenträger abgebildet? Ein letztes oder erstes Glas Wasser ist eingeschenkt. Ihm gegenüber steht ein gleichsam wundersamer Barbesucher, mit Hut und langen Haaren, irgendwo seiner Zeit entrückt – historisch gekleidet. Die rechte Hand stützt er auf den Tresen, seine linke hält den Kopf einer Frau auf der Bar fest. Darüber schwebt der Körper der Frau mit einem bestimmten vom Maler gewählten Anschnitt – ohne Kopf.
Auch beim Betrachten dieses Bildes bleibt der Betrachter irritiert zurück. Es ist wirklich „Die Stunde der Entweltlichung“, die Stunde jenseits der weltlichen Seinsordnung. Es ist die Stunde des Wunders, die der Künstler zeigt. Ob die Beiden an der Bar das Wunder sehen, bleibe dahingestellt. Ebenso ist nicht klar, ob der schwebende Körper der jungen Frau zu dem Kopf gehört, der auf der Bar liegt. Vieles bleibt offen.
Vieles bleibt offen, trotz Klarheit in der malerischen Ausführung – das ist es, was die Bilder von Aris Kalaizis ausmachen. Die Wirklichkeit dieser Bilder ist eine offengelassene, die sich nicht festlegen lässt, sondern in die „Splitter des Messianischen eingesprengt sind“. Was Walter Benjamin hier für die Geschichte sagt, hält Kalaizis in seinen Bildern fest. Aris Kalaizis malt Gemälde jenseits einer homogenen und leeren Bildhaftigkeit. In seinen Bildern ist jede Sekunde oder – in Abwandlung von Walter Benjamin besser gesagt – jeder Quadratzentimeter seiner Leinwand „die kleine Pforte, durch die der Messias treten“ kann.
In diesem Sinne sind seine Bilder messianische Suchbilder, so Pius Siller in einem anderen Zusammenhang, d.h. sie haben Sinn und verweisen auf ein Sinnfeld jenseits des gewöhnlichen Konstruktivismus unseres Denkens. Es ist die Offenlassung der Wirklichkeit für andere Erscheinungen und Sinnfelder, ob wir sie nun bemerken oder nicht. Aris Kalaizis unterläuft mit seinen Bildern die Konstruktion der Wirklichkeit als Existierendes. Ich teile folgenden Satz des Philosophen Markus Gabriel[2]:„Ich behaupte, dass Existenz nicht eine Eigenschaft der Gegenstände in der Welt oder in den Sinnfeldern, sondern eine Eigenschaft von Sinnfeldern ist, nämlich die Eigenschaft, dass etwas in ihnen erscheint.“ Die Fähigkeit zu solchem Erscheinen, von denen die Bildwelten des Künstlers Aris Kalaizis Kenntnis geben, nenne ich messianisch.
Prof. Dr. August Heuser, geb. 1949, Leiter des Dommuseums in Frankfurt am Main und des Diözesanmuseums in Limburg verfasste mehrere Beiträge zur zeitgenössischen Kunst. Er lebt in Frankfurt am Main
1 Aris Kalaizis: „Rubbacord“, Bielefeld 2006.
2 Markus Gabriel: „Warum es die Welt nicht gibt“, Berlin 2013.