Aris Kalaizis

Über Messianismus im Werk von Aris Kalaizis

Prof. Dr. August Heuser zeich­net in seinem Essay eine Par­al­lele zwis­chen Paul Klee's "Angelus Novus" und Aris Kalaizis' Bild "make/​believe". Dar­in unter­stellt er u.a. beiden Künst­lern ein­en mes­si­an­is­chen Impuls, der gegen ein mater­i­al­istisches Geschichts­ver­ständ­nis aufbegehrt.

Aris Kalaizis, Detail: Das Schweigen des Waldes | Öl auf Leinwand | 150 x 140 cm | 2010
Aris Kalaizis, Detail: Das Schweigen des Waldes | Öl auf Leinwand | 150 x 140 cm | 2010

Die Frage nach dem, was Wirk­lich­keit sei, wird viel­fach beant­wor­tet, und doch bleibt sie eine der schwi­erig­sten Fra­gen der Philo­sophiegeschichte. Was ist es, „was die Welt im Inner­sten zusam­men­hält“? Wie, so kann man fra­gen, kon­stitu­iert und kon­stru­iert sich Wirk­lich­keit? Woher neh­men wir sie in unser­er Welt? 
Natür­lich, Ant­worten sind in ihr­er Summe vieldeut­ig und nur ver­ein­zelte Ant­worten wis­sen zu überzeu­gen, obgleich Pos­it­iv­is­mus und Mater­i­al­is­mus schon immer zur gegen­teili­gen Annahme ver­führen wollen.


Sot­toreal­is­mus


In der ideal­istisch-pla­ton­is­chen Philo­soph­ie kon­stitu­iert sich Wirk­lich­keit von oben her, also von ein­er Idee. Das Wort Meta­physik kann auch mit jen­seits, hinter oder über der Physik über­set­zt wer­den. Dabei geht die Philo­soph­ie dav­on aus, dass es sich um ein Über­sinn­liches han­delt, was nicht in der Welt als Ding in Erschein­ung tritt. Es ist stets ein Ver­heißendes, was die jüdis­che Theo­lo­gie mes­si­an­isch nennt.


Die amerik­an­is­che Kun­sthis­toriker­in Car­ol Strick­land nen­nt in der Buch­pub­lika­tion „Rubbacord“[1] im Hin­blick auf Kala­izis’ Leipzi­ger Bilder den brit­ischen Autor Har­old Pinter, dessen Stücke von „dunklen Hin­weis­en und bedeu­tungsschwer­en Anre­gun­gen“, den Zuschauer im Ungewis­sen lassen sol­len „zu welchen Schlüssen sie kom­men sol­len“. An ander­er Stelle meint sie, der Betrachter sei vom Künst­ler ein­ge­laden „unter der Ober­fläche zu suchen, sich ein­zu­lassen auf die im Bild ver­borgen­en Hin­weise, wie ein Archäo­loge auf der Suche nach ver­gan­gen­en Zivil­isa­tion­en“. Diesen Unter­grund nen­nt sie Sottorealismus.

Mit Sot­toreal­is­mus können wir viel­leicht nun alles auf den Begriff brin­g­en, was unter­halb der Real­ität steht, was also nicht von oben Real­ität kon­stru­iert, ihr gleich­sam etwas über­stülpt, son­dern was von unten trägt und erst von der Unter­welt alles weit­ere ermög­licht. Es sind sozus­agen die Grundstruk­turen von Wirk­lich­keit, ihre Gründun­gen und – im Wort­sinn – fun­da­mentalen Bedingungen. 


Dabei stellt sich nun die Frage, ob Wirk­lich­keit sich nicht nur von oben her kon­stitu­iert, son­dern auch von unten. Wenn es den Begriff Sur­real­is­mus und das dam­it Gemeinte als Über­sinn­liches gibt, dann ist zu fra­gen, ob es Sot­toreal­is­mus als ein unter dem Sinn­lichen Lie­gendes gibt. Die „Caprichos“ von Goya zielen in diese Rich­tung. Sie legen die Sub­struk­tur des Seins frei und zei­gen, worauf sich Wirk­lich­keit bez­ieht und woraus sie erwächst. Es wird bes­chrieben mit dem Dual­is­mus von Ver­nun­ft und Phant­as­ie, ist aber mit einem Titel aus dem Werk bess­er bes­chrieben: „Der Sch­laf der Ver­nun­ft gebiert Unge­heuer“. Ist also, so kann man fra­gen, der Sch­laf der Ver­nun­ft der­en Vorzus­tand und kön­nte dam­it der Vorzus­tand der Wirk­lich­keit insges­amt gemeint sein, also das, was sich unter der Wirk­lich­keit verbirgt?

Aris Kalaizis | make/believe | Öl auf Holz | 59 x 80 cm | 2009
Aris Kalaizis | make/believe | Öl auf Holz | 59 x 80 cm | 2009

Die Real­ität der Menschen und der Engel


In dem 2009 gemal­ten Bild Make/​Believe nim­mt der Ver­treter der Leipzi­ger Schule, Aris Kala­izis, zwei Real­itäts­be­haupter – ein selb­ster­stell­tes Foto sow­ie ein Bild aus ein­er Tageszei­tung – zum Aus­gang­spunkt sein­er Bild­welt. Dieses zeigt Papst Bene­dikt XVI. durch eine weit geöffnete Tür ein­en Raum, viel­leicht im Vatik­an, betre­tend unter ein­er Lichtkup­pel, die Hände hoch hal­tend zur Begrüßung viel­leicht ein­er Pil­ger­schar oder ein­er Abord­nung, viel­leicht auch nur der Betrachter des Bildes. 
Ihm fol­gen im Tür­rah­men drei Bis­chöfe, dah­inter welt­liches Per­son­al. Auf der linken Seite des Bildes steht ein Sch­weizer­gard­ist, auf der recht­en Seite steht im Straßen­an­zug eine Engels­gestalt mit großen Flü­geln. Der männ­liche Engel mit eigentüm­lich zeit­gemäßer Kleidung, der mit der linken Hand sein­en Hem­dknopf oben an seinem Hals öffn­en will, zeigt mit der aus­gestreck­ten Recht­en streng auf den Boden.

Aris Kalaizis | Das Band | Öl auf Leinwand | 160 x 210 cm | 2013
Aris Kalaizis | Das Band | Öl auf Leinwand | 160 x 210 cm | 2013

Die wesent­lichen sym­bol­ischen Sig­nale des Bildes kom­men von der Lichtkup­pel, die Licht von oben in den Raum ergießt, und von der Engels­gestalt und ihr­em Hin­weis auf den Fußboden. Frei­lich fin­d­et das Auge des Betrachters nichts auf dem Fußboden, was den deut­lichen Hin­weis des Engels recht­fer­ti­gen kön­nte. Auf was also zielt die eng­lische Geste, die die andere Seite des Him­mels­licht­es bestimmt?


Der Titel des Bildes „make/​believe“ zit­iert zwei Hal­tun­gen des Menschen in der Welt: Das Tun und Machen, das den Mater­i­al­is­mus des Menschen prägt, und das Glauben als das Wis­sen um Geistig-Spirituelles in dieser Welt. Ein­er spirituel­len Inter­pret­a­tion der Welt möchte man das Him­mels­licht und die Pap­st­gestalt zuordnen. Glaube ist doch gemein­hin eine Frage des Him­mels und nicht ein­fach von Menschen herzus­tel­len – auch nicht vom Papst. Es bleibt immer ein übernatür­liches Ereignis. 
Der Him­mels­bote ist ein­er Zwis­chen­welt zuzuordnen. Er kom­mt vom Him­mel, doch seine Geste ver­weist auf die Erde und dam­it auf den Ort des Schaf­fens und Machens. Es scheint, dass auch aus Schaf­fen und Machen ein spirituelles Licht zu sch­la­gen ist und dass die beiden so unter­schied­lichen Sphären Him­mel und Erde (oder Hölle) dann doch zusam­menge­hören – was die These von Papst Bene­dikt, Glaube und Ver­nun­ft gehörten zusam­men, bestäti­gen würde.

Paul Klee hat im Jahre 1920 sein­en „Angelus Novus“, sein­en „neuen“ Engel oder „jun­gen“ Engel, gezeich­net. Diese Zeich­nung erwarb Wal­ter Ben­jamin im Jahre 1921. Seine Frau Dora schen­kte ihm schon ein Jahr vorher Klees Zeich­nung „Vor­führung des Wun­ders“ (1919), die Ben­jamin auf Klee aufmerksam und zu einem Verehr­er sein­er Kunst machte. Den „Angelus Novus“ über­nahm Ben­jamin als Engel der Geschichte in sein­en Text „Über den Begriff der Geschichte“ (1940).


Ben­jamins Text ist ein geschicht­s­philo­soph­is­cher oder geschicht­s­theo­lo­gis­cher Essay mit mes­si­an­is­chem Ans­pruch. Er spricht gegen ein mater­i­al­istisches Geschichts­ver­ständ­nis, von einem mes­si­an­is­chen Impuls in der Geschichte der Mensch­heit. Im Span­nungs­bo­gen von Philo­soph­ie und Theo­lo­gie steht auch das Bild "make/​believe" von Aris Kala­izis: in der Span­nung zwis­chen dem vom Him­mel inspir­ier­ten Papst und dem auf die Erde ver­weis­enden Angelus. Kala­izis’ Angelus ver­weist wie der von Klee auf das Dar­unter und zeigt auf die Sub­struk­tur unser­er Wirk­lich­keit, auf das, was unter der Wirk­lich­keit ver­bor­gen liegt, und ver­sucht daraus Sinn zu gewinnen. Beide erschließen neue Sinnfelder.


Wal­ter Ben­jamins Essay ist sich­er nicht gän­z­lich auf das Bild von Aris Kala­izis zu über­tra­gen. Den­noch weist er in die Rich­tung ein­er frucht­bar­en Deu­tung. Es ist schon erstaun­lich, dass Klee wie Kala­izis die Fig­ur des Engels für ihre Bild­find­un­gen frucht­bar gemacht haben. Für beide Künst­ler steht der Engel in seinem Ver­weis­charak­ter zwis­chen Him­mel und Erde, also zwis­chen dem Sicht­bar­en und dem Unsicht­bar­en der Welt, zwis­chen unten und oben, gestern und heute – immer vor der Zukun­ft, die uns Forts­ch­ritt vor­gaukeln will. Kala­izis’ Angelus novus ver­weist auf den Grund dessen, was unsere Welt aus­macht. In diesem Gedankengang kon­nte deshalb der Jude Ger­shom Scholem, Fre­und von Wal­ter Ben­jamin, den Angelus Novus als Botschafter der Kab­bala deu­ten, der Botschaft von der Ents­prechung von oben und unten.

Aris Kalaizis | Die Stunde der Entweltlichung | Öl auf Leinwand | 140 x 180 cm | 2012
Aris Kalaizis | Die Stunde der Entweltlichung | Öl auf Leinwand | 140 x 180 cm | 2012

Das Wun­derbare als Wirk­lich­keit sehen


Auch das groß­form­atige Gemälde Die Stunde der Entwelt­lichung (2012) enthält im Titel ein Zit­at von Papst Bene­dikt XVI. Das Wort „Entwelt­lichung“ entstam­mt sein­er Freibur­ger Rede, gehal­ten bei seinem let­zten Deutsch­land­be­such 2011. Der Begriff „Entwelt­lichung“ erregte dam­als großes Auf­se­hen, wurde es doch ver­standen als eine For­der­ung an die Kirche und der­en Repräsent­anten, auf welt­liche Struk­turen und Option­en zu ver­zicht­en und sich mehr dem Geist­lichen zu wid­men. Dem­nach ging es also in dieser Rede um die Gegenüber­stel­lung von welt­li­chem und geist­li­chem Leben.


Mit Klees Titel kön­nte man das Bild auch „Vor­führung des Wun­ders“ nennen. Aris Kala­izis zeigt in seinem Bild den Tresen ein­er Bar im Rot­lichtm­i­lieu mit ein­er bezeichn­enden, himml­isch-blauen Leuchts­chrift „Wun­derbar“. Dieser Ver­weis ist in der Tat dop­peldeut­ig. Das Wun­der als des Glaubens lieb­stes Kind und die Bar als der Inbe­griff des welt­lichen Lebens – Alko­hol, Amuse­ment, Freizeit, Ich­bezo­gen­heit, die große Welt – all das schwingt in diesem Begriff mit. Der Begriff ist geer­det und schwer mit Leben gefüllt. Frei­lich ist die Bar immer auch ein Sehn­sucht­sort, jen­seits des All­tags, ohne dessen Bindung.


Zwei Män­ner stehen am Tresen. Wahr­schein­lich ist es schon früh­mor­gens. Der Tag däm­mert herauf. Der Wirt im Unter­hemd hat den Tresen schon gewis­cht, die Tageszei­tung liegt bereit. Ist darauf ein geist­lich­er Würden­träger abge­bil­det? Ein let­ztes oder erstes Glas Wasser ist einges­chen­kt. Ihm gegenüber steht ein gleich­sam wun­der­samer Barbe­such­er, mit Hut und lan­gen Haar­en, irgend­wo sein­er Zeit entrückt – his­tor­isch gekleidet. Die rechte Hand stützt er auf den Tresen, seine linke hält den Kopf ein­er Frau auf der Bar fest. Darüber schwebt der Körp­er der Frau mit einem bestim­mten vom Maler gewähl­ten Anschnitt – ohne Kopf.

Auch beim Betracht­en dieses Bildes bleibt der Betrachter irrit­iert zurück. Es ist wirk­lich „Die Stunde der Entwelt­lichung“, die Stunde jen­seits der welt­lichen Sein­sord­nung. Es ist die Stunde des Wun­ders, die der Künst­ler zeigt. Ob die Beiden an der Bar das Wun­der sehen, bleibe dahinges­tellt. Ebenso ist nicht klar, ob der schwebende Körp­er der jun­gen Frau zu dem Kopf gehört, der auf der Bar liegt. Vieles bleibt offen.


Vieles bleibt offen, trotz Klar­heit in der malerischen Aus­führung – das ist es, was die Bilder von Aris Kala­izis aus­machen. Die Wirk­lich­keit dieser Bilder ist eine offen­gelassene, die sich nicht festle­gen lässt, son­dern in die „Split­ter des Mes­si­an­is­chen einge­spren­gt sind“. Was Wal­ter Ben­jamin hier für die Geschichte sagt, hält Kala­izis in sein­en Bildern fest. Aris Kala­izis malt Gemälde jen­seits ein­er homo­gen­en und leer­en Bild­haftigkeit. In sein­en Bildern ist jede Sekunde oder – in Abwand­lung von Wal­ter Ben­jamin bess­er gesagt – jeder Quad­ratzen­ti­meter sein­er Lein­wand „die kleine Pforte, durch die der Mes­si­as tre­ten“ kann. 
In diesem Sinne sind seine Bilder mes­si­an­is­che Such­b­ilder, so Pius Siller in einem ander­en Zusam­men­hang, d.h. sie haben Sinn und ver­weis­en auf ein Sin­nfeld jen­seits des gewöhn­lichen Kon­strukt­iv­is­mus unseres Den­kens. Es ist die Offen­las­sung der Wirk­lich­keit für andere Erschein­un­gen und Sin­nfeld­er, ob wir sie nun bemerken oder nicht. Aris Kala­izis unter­läuft mit sein­en Bildern die Kon­struk­tion der Wirk­lich­keit als Existi­er­endes. Ich teile fol­genden Satz des Philo­sophen Markus Gabriel[2]:„Ich behaupte, dass Existenz nicht eine Eigenschaft der Gegen­stände in der Welt oder in den Sin­nfeld­ern, son­dern eine Eigenschaft von Sin­nfeld­ern ist, näm­lich die Eigenschaft, dass etwas in ihnen erscheint.“ Die Fähigkeit zu sol­chem Erschein­en, von den­en die Bild­wel­ten des Künst­lers Aris Kala­izis Ken­nt­nis geben, nenne ich messianisch.

August Heuser während der Eröffnungsrede (Aris Kalaizis im Frankfurter Dom) 2014
August Heuser während der Eröffnungsrede (Aris Kalaizis im Frankfurter Dom) 2014

Prof. Dr. August Heuser, geb. 1949, Leit­er des Dom­mu­seums in Frank­furt am Main und des Diözes­an­mu­seums in Limburg ver­fasste mehr­ere Beiträge zur zeit­genöss­is­chen Kunst. Er lebt in Frank­furt am Main

1 Aris Kala­izis: „Rub­ba­cord“, Biele­feld 2006.
2 Markus Gab­ri­el: „War­um es die Welt nicht gibt“, Ber­lin 2013.

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