Gerade beim Malen habe ich die Gewissheit zu leben
Ein Gespräch zwischen dem Lyriker Paul-Henri Campbell und Aris Kalaizis über seine griechischen Wurzeln, das künstlerische Erwachen sowie den religiösen Impetus seiner Bilder
C: Sie sind 1966 als Sohn einer Schriftsetzerin und eines Chemiegrafen in Leipzig zur Welt gekommen, erlernten zunächst den Beruf eines Offsetdruckers, später schulten Sie zum Fotolaboranten um, bevor sie nach dem Fall der Mauer, ebenfalls in Leipzig, an der Kunstakademie unter Prof. Arno Rink Malerei studierten, dessen Meisterschüler Sie im Jahr 2000 wurden. Sie scheinen in Leipzig sehr verwurzelt zu sein. Was bedeutet ihnen Heimat?
K: Ja doch, verwurzelt bin ich schon sehr in Leipzig, überhaupt fühle ich mich der sächsischen Tiefebene sehr verbunden. Familie, Freunde leben hier. Aber Sie haben mich nach Heimat gefragt, und ich bin gar nicht sicher, ob der Bezug zum Ort, gleichsam ein Bezug zur Heimat sein muss.
C: Können Sie das erklären?
K: Weil nicht nur der Ort, in dem einer tatsächlich lebt, sondern auch ein Landstrich, an dem – sagen wir etwas übertrieben – derselbe noch nie war, mit der Seele gesucht und genauso geliebt werden kann. So kann mir ein Hügel in der Landschaft Nordgriechenlands näher sein, als das Elbsandsteingebirge. Heimat ist nicht immer eine Sache des ständigen Vorortseins.
Die Wurzeln
C: Ihre Eltern sind als Kinder infolge des griechischen Bürgerkrieges (1946 – 1949) in die damalige DDR emigriert. Beide lebten als dreizehn- und vierzehnjährige Jugendliche in einem Leipziger Internat, wo sie mit anderen griechischen Kindern heranwuchsen und mit einer fremden Sprache sowie einer anderen Kultur in Berührung kamen. Wie erlebten Ihre Eltern die Diaspora?
K: Bewusst konnte ich das erst um 1980 reflektieren. Damals war ich vierzehn. Und in diesem Alter begann ich – wahrscheinlich aus einem ersten, tieferen inneren Bedürfnis heraus – mich für das Griechische und auch das Leben meiner Eltern zu interessieren, die ein einfaches und bescheidenes Leben führten. Sie müssen wissen, durch den Bürgerkrieg verließen sich nicht nur ihr Heimatland, sondern wurden gleichsam von ihren Eltern und ihren Geschwistern getrennt. Sie können sich sicher vorstellen, was es für ein junges Leben heißt, derart aus dem Leben herausgerissen zu werden und in der Fremde, fernab der Mutter und des Vaters, ein neues Leben beginnen zu müssen. Trotzdem haben sie es weder meinem Bruder noch mir gegenüber an Zutrauen und Liebe fehlen lassen – trotz ihrer schwerwiegenden Entbehrungen.
C: Wie würden Sie den griechischen Impetus in ihren Bildern umschreiben?
K: Wie lässt sich so eine Frage von einem beantworten, der niemals – sagen wir – den deutschen Wald oder die griechische Mythologie zum Thema hatte. Sehen Sie: Da wären wir wieder bei einem recht zittrigen Heimatbegriff und all den möglichen Umwegen, über die im Reisepass kein Wort zu finden ist. Natürlich bin ich so und so von beiden Kulturen geprägt, und beide wirken demnach – auch beim Bildermalen – in mir fort, und dafür bin ich dankbar, weil sie mich bereichern. Es gibt aber aufgrund dieser Bedingtheit weder in mir, noch in meinen Bildern das Alleindeutsche, genau so wenig wie das Alleingriechische.
C: Damit bringen sie etwas zum Ausdruck, was mir bei der Beschäftigung mit ihrem Werk aufgefallen ist: Sie haben eine Schwäche für Umwege.
K: Ja, die Umwege haben in meiner Eltern und in meinem Leben tatsächlich auch vieles bewirkt, weil sie das Vielfältigste ergeben können.
C: Wie sind Sie denn eigentlich zur Malerei gelangt?
K: Nach meiner Ausbildung zum Offsetdrucker war ich in einer Leipziger Druckerei beschäftigt. Ich hatte ja bislang kaum intensivere Berührungen mit den verschiedenen Künsten gehabt. Das einzige, was ich damals machte, war, Heavy-Metal-Cover und T‑Shirts zu malen. Ich habe das aber nie als Kreativität empfunden. Und so kam ich in diesem kleinen und wunderbaren Jungdruckerkreis, wo neben mir bestimmt sechs oder sieben angehende Drucker waren, die in ihrer Freizeit – weitab vom damaligen Mainstream – Gedichte schrieben, Musik machten oder eben auch malten. Obwohl wir alle wussten, dass unsere Zukunft nicht an der Druckmaschine enden würde, empfanden wir das Klima untereinander als befruchtend und lebendig.
C: In diesem Klima sind Sie demnach „künstlerisch erwacht“?
K: Ja. In dieser Druckerei gab es zudem einen jungen Mann, der zuvor seinen Arm in der Druckmaschine verlor. Er hatte einen merkwürdigen Namen: Holger-Makarios Oley. Seinen Spitznamen verlieh er sich nach dem zyprischen Erzbischof Makarios III. Er hatte nach seinem Unfall ein Ingenieurstudium aufgenommen und saß nun in einem Büro in unserer Druckerei, in dem ich ihn in meinen Pausen zunächst nur gelegentlich besuchte. Eines Tages saß ich wieder in seinem Büro, zwischen uns war nur sein Schreibtisch und er sagte zu mir, dass ich zu ihm kommen solle, da er mir etwas zeigen wolle. Daraufhin zog er die Schreibtischschublade auf, und es kamen eine bemalte Malpappe, ein paar Ölfarben und etwas Terpentin zum Vorschein. Abgesehen davon, dass in dieser Anekdote auch ein wenig DDR-Geschichte steckt, war ich von diesem Moment fasziniert und zugleich infiziert. Ich erinnere mich noch genau, wie ich an jenem Tag völlig beseelt nach Hause fuhr, aus der Straßenbahn ausstieg und in eine Bücherei ging. Dort kaufte ich mir einen unglaublich schlecht gedruckten Bildband eines Malers, dessen Bedeutung sich mir erst viele Jahre später erschließen sollte: Velázquez. – Ich konnte mit dieser Malerei damals nicht viel anfangen, da ich in dieser Zeit nur für die surrealen Welten meiner Freunde interessierte. Ich hab mir dieses Buch, das ich heute noch besitze, lediglich gekauft, wie man anderenorts Handbücher zu „Wie baue ich ein Haus“ oder „Schneidern – leicht gemacht“ kauft.
C: Erstaunlich ist, dass sie plötzlich und inmitten industrieller Produktionsbedingungen, an der Rückkehr zu vorindustriellen Gestaltungsprinzipien interessiert waren. Wie ging ihr Weg dann weiter?
K: Natürlich besuchte ich meinen Freund Makarios in seinem Büro täglich, sooft ich eben konnte, einfach nur, um den Fortgang des kleinen Gemäldes in der Schublade zu verfolgen. Zu Hause erzählte ich dann meinem Vater von meinen Erlebnissen. Er spürte damals meine Begeisterung und zimmerte heimlich im Keller an einer Staffelei, die er aus Holzresten baute und die er mir dann zu Weihnachten 1985 schenkte.
C: Bedenkt man, wie spät sie zur Malerei gelangten, müssen sie sich unglaublich schnell entwickelt haben?
K: Vielleicht. Es zeigt aber vor allem, wie etwas Unverhofftes ein Leben verändern kann, so wie diese Begegnung mein Leben verändert hat.
C: Mittlerweile haben sie mehr als Ihr halbes Leben der Malerei gewidmet. Jedes Bild hat eine Geschichte. Jeder Maler hat eine Biografie, darin diese Bilder sind. Reift der Blick in der Zeit?
K: Richtig, jedes Bild hat eine Geschichte. Eine wirklich eigene Geschichte hat jedoch nur das erstgemalte Bild, geschriebene Buch etc. Alles darauf folgende Tun steht in einem zum Teil unbewussten Abhängigkeitsverhältnis, denn mit jedem weiteren Bild oder Buch formiert sich eine größere, werdende Initialverkettung. Infolgedessen ist es immer schwierig, ein Bild für sich zu analysieren, denn es bleibt immer ein Produkt aller vorangegangenen Produkte. Jedoch, um auf ihre Frage zurückzukommen, reift der Blick, weil im Laufe der Jahre so etwas wie Erfahrung entstanden ist. Die zunehmende Erfahrung ist – neben all dem Grässlichen – ja auch das Wunderbare am Altern. Ich würde kein einziges Gemälde der Jugendjahre so oder ähnlich malen wollen.
C: Kein einziges?
K: Kein einziges, denn die Haut ist nicht das Herz.
Dynamisierte Tradition
C: Einige Ihrer Werke nehmen in Form von Zitaten oder Transformationen Elemente von früheren Werken auf. Ist dies denn eine Art und Weise, diese biografische Spannung zwischen Maler und Werk darzustellen?
K: Vielleicht ist es zunächst sinnvoll zu erläutern, dass ich ein Freund einer dynamisierten Tradition bin. Das bedeutet, dass man nicht auf den bereits errungenen Positionen beharrt, sondern einen Teil dieser Erfahrungen überführt auf ein bislang so noch nicht gekanntes Terrain. Denn nur mit einem Bewusstsein vom Bestehenden kann ich verträglich Räume entwerfen, die ich nicht kenne. Wenn ich hingegen meine Tradition verleugnen würde, könnte ich doch nur auf einem unsicheren Fundament driften, ich müsste von einer Eisscholle zur nächsten springen – von einer Erfahrung zur nächsten. Die dynamisierte Tradition setzt eine kritische Akzeptanz des scheinbar Erreichten voraus und strebt zugleich die Suche in das Unbekannte, Ungewisse an. Dabei geht es mir nie um das Neue, sondern stets um das nuanciert Erneuerte. Das schönste ist, wenn dabei Entwicklungen entstehen, was nicht selbstverständlich ist, denn schließlich bedeutet nicht jede Erfahrung gleichsam eine Entwicklung.
C: Mich interessiert Ihre Freundschaft mit einer – wie auch immer – dynamisierten Tradition. Ich denke da an Ihr Gemälde „Die Vergegenwärtigung des Vergangenen“ aus dem Jahr 2010 , in dem Sie ihr Kapitalismus-Bild „Manchester“ zitieren. Welches Moment in diesen Erfahrungen ist die Triebfeder für eine solche Dynamisierung? Was ist das Wirkmächtige in diesen Erfahrungen, die Sie als Künstler mit sich selbst und der Welt machen, in Bezug auf die Tradition, sodass sie diese Tradition in Bewegung setzen?
K: Ganz recht, eine Anerkennung ist vonnöten. Jedoch ist ein Nichtanerkennenwollen so mancher Erfahrung ebenso zwingend, denn – wie gesagt – nicht jede Erfahrung mündet in eine Entwicklung. Das Publikum spielt in diesem Prozess eine untergeordnete Rolle, zumal ich als Maler weiß, welche Bilder im Laufe der Jahre eine Gegenliebe erzeugen konnten und welche Bilder dies weniger vermochten. Diese Fragestellung muss ich alleine beantworten, da ich mich doch sonst zum Erfüllungsgehilfen einer wohlwollenden Mehrheit machen würde. Das wäre ein ganz fürchterlicher Vorgang, der zwangsläufig in die künstlerische Sackgasse führen muss. Ihr Bildbeispiel „Die Vergegenwärtigung des Vergangenen“ ist für mich in dieser Hinsicht geradezu programmatisch, denn in diesem Bild zitiere ich mich mit einem früheren Gemälde (Manchester, 2009). Das Einzige jedoch, was beide Bilder eint, ist die Darstellung der weißen Zylinder.
…im Grunde bin ich eine Art Zahnarzt, der ein Loch bohrt, jedoch anschließend die Öffnung nicht verschließt
C: Und wie entsteht diese Verknüpfung genau?
Mit „Die Vergegenwärtigung des Vergangenen" ist durch die Wiederaufführung eines älteren Bildes der Versuch unternommen worden, eine Bewegung oder einen regelrechten Fluss zu erzeugen. Die weißen Zylinder auf dem bereits gemalten Bild wieder lebhaft werden zu lassen, sie beinahe fließend zu überführen in ein neues Zentrum, letztlich in eine komplett neue Bildkomposition zu transformieren, in dem das Alte nur etwas Beiläufiges ist. Das ist Dynamisierung der Tradition!
C: Würden Sie widersprechen, wenn ich ihnen attestiere, dass Ihrem Begriff von einer dynamisierten Tradition ein revisionistischer Zug innewohnt?
K: Wenn Sie damit meinen, nicht auf den erreichten Positionen zu verharren und sie zu verwalten und stattdessen die eigenen Möglichkeiten soweit auszudehnen, bis sie erschöpft sind, dann bin ich ein Revisionist.
Verhältnis von Maler, Werk und Betrachter
C: Sprechen Sie noch etwas über den von Ihnen genannten Fluss. Ich verstehe, dass Sie anamnetische Elemente hereinbringen, z. B. indem die Zylinder als Zitat aus einem früheren Gemälde fungieren. Welche Bedeutung hat ein solcher Vorgang Ihrer Ansicht nach?
K: Ich gebe Ihnen gern über das Entstehen eines Gemäldes Auskunft. Jedoch fällt es mir schwer, über Bedeutungen zu reden.
C: Warum ist das so?
K: Im Grunde bin ich eine Art Zahnarzt, der ein Loch bohrt, jedoch anschließend die Öffnung nicht verschließt.
C: Heißt das, dass die Füllung durch den Patienten, den Betrachter vorgenommen werden soll?
K: Unbedingt! Wissen Sie: Deutungen sind immer auch Interpretationen. Angenommen, ich wüsste mehr als der Betrachter und würde als Macher meines eigenen Produkts eine Deutung wagen, liefe ich doch Gefahr, dass sich die Leute zu sehr an meine Aussagen hielten. Das wäre einfach töricht, zumal ich so niemals an die geistigen Juwelen des Betrachters gelangen könnte, die eben durch eine jeweils eigene Auseinandersetzung zum Vorschein kommen können. Sicher, sind auch Goldfüllungen möglich.
C: Aber es gibt auch eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Künstlern, die das anders sehen, die …
K: … den Betrachter an die Hand nehmen, und mit denen will ich nichts gemein haben. Wenn ich von der Staffelei zurücktrete, stell’ ich mir den erhabensten unter allen Möglichen, den mündigsten Betrachter vor. Infolgedessen habe ich nach Fertigstellung eines Bildes, dahinter zu verschwinden und einfach meine Schnauze zu halten.
Schweigsames Innehalten
C: Warum nicht auf die Ebene der Kommunikation treten?
K: Malerei besteht zunächst nicht aus Sprache, sondern aus Bildern. Die Sprache ist zumeist dort, wo die Bilder nicht mehr genügen, nicht stark genug sind.
C: Sie haben in diesem Zusammenhang einmal gesagt, dass etwa die großen Gemälde eines Jusepe Ribera oder El Greco Sie „mundtot“ machten, und es ihnen mithin am liebsten wäre, wenn beim Betrachter als Folge der Auseinandersetzung ein „Schweigen“ evoziert wird.
K: Richtig! Das habe ich gesagt.
C: Können Sie das näher erläutern?
K: Gemeint ist ein schweigsames Innehalten, als Konsequenz einer reflexiven Betrachtung – natürlich immer vorausgesetzt, dass das Objekt der Begierde eine Größe in sich trägt, denen die Worte nicht gewachsen sind. Gute Malerei ist sich immer selbst genug. Das heißt, dass alle relevanten Informationen im Bilde enthalten sind. Ob es sich dabei um meine Zeit, meine Epoche oder um den gesamten Geschichtsverlauf handelt – alles ist darin enthalten. Infolgedessen ist in meinen Bildern mein Verhältnis zur Kunsttheorie oder Literatur und zu beinahe allem verankert. Nicht nur, was ich lese, sondern wie ich etwas lese, ob ich schnell oder langsam lese, all das schlägt sich in der Malerei in einer Art geheimer Niederschrift, einer Chiffre, nieder.
C: Bevor wir von der Innenwelt des Malers auf die Außenwelt kommen, lässt sich zunächst konstatieren, dass Ihren Bildern eine Privatheit innewohnt, die scheinbar nonchalant daherkommt, die einen aber nicht selten gruselt. In Ihren Gemälden wird nicht selten, über den Umweg des längeren Betrachtens, das Äußere, das Gesellschaftliche sichtbar. Nun ließe sich über dieses System, das sie – wie ich finde – gnadenlos betreiben, weitaus mehr erzählen, weil es ohne das vordergründig Politische, ohne die Referenzhölle, der so viele Künstler anheimgefallen sind, auskommt. Zunächst aber lassen Sie mich direkt fragen, wie die Außenwelt die Intimität des Ateliers beeinflusst?
K: Selbstverständlich bedingen beide einander. Ohne Außenbild kein Innenbild. Leben heißt doch im Grunde mitbewegt sein.
C: Wie kann man sich diese Extraktion vorstellen?
K: Indem ich den Filtrationsmodus aktiviere. Nur so kann ich weniger abhängig bleiben von dem, was Sie Außenwelt nennen. Es ist doch im Grunde meines Wesens nicht anders als bei den meisten Menschen. Auch ich habe eine Vorstellung von Geschichte, habe eine Vorstellung von vielem, würde mich sogar als politischen Menschen bezeichnen, der interessiert die Geschehnisse in Politik und Wirtschaft verfolgt. Jedoch muss ich versuchen, all’ diese Meinungen oder besser Haltungen, die im Laufe eines Menschenlebens nun einmal entstehen, niederzudrücken oder draußenzuhalten.
C: Geben Sie mir ein Beispiel?
K: Nun, ich habe vor nicht allzu langer Zeit ein erstes Mal eine Figur der Zeitgeschichte, Papst Benedikt XVI., gemalt und habe dabei große Bedenken gehabt. Nun werden Sie sicher fragen warum, und ich sage Ihnen: Die größte Schwierigkeit bestand darin, meine Meinung über diesen Papst soweit auszuklammern, dass weder eine vordergründige Papsthuldigung, noch Papstkritik entsteht. Daran lässt sich erkennen, dass ich kein Interesse habe, als Dekorateur oder Karikaturist meines politischen Denkens zu fungieren. Zum einen hat es damit zu tun, dass ich selbst beim Betrachten von Bildern nicht agitiert werden möchte, und zum anderen mit meinen Bildern keine Beihilfe zur Agitation leisten möchte. Diese Haltung entspricht auch ganz meinem Denken, da ich Überzeugungen ablehne. Vielmehr möchte ich als Maler einen Möglichkeitsraum erschaffen, in dem verschiedenste Interpretationen möglich sein können. Und das ist das Schwierigste. Alle Bildprojekte müssen subtilerer Natur sein, denn sie sollen nicht nur den Moment, sondern auch mich überdauern.
C: Das heißt, dass die Bilder mehr über die Form gelenkt werden.
K: Genau. Denn gerade die Geschichte der Kunst zeigt uns doch, dass sie nicht von neuen Ideen bestimmt wird, sondern von neuen Formwendungen.
C: Wie halten wir es dann mit der Aussage eines Kunstwerkes?
K: Ein Bild liefert – wie gesagt – lediglich Bildinformationen, die sich durch die Augen des Betrachters zu einer Aussage formieren können. Die Aussage wird aber nicht vom Maler getroffen, sondern vom Betrachter selbst. Diese Aussagen ändern sich von Zeit zu Zeit und sind von Betrachter zu Betrachter verschieden. Darum bewundern wir auch die Bilder El Grecos oder Riberas, weil sie uns ständig herausfordern. Hätten aber die erwähnten Maler ihre Form nicht gefunden, würden wir uns nicht mit ihnen beschäftigen – so einfach ist das.
C: Sie haben in einem früheren Gespräch aus dem Jahr 1997 erwähnt, dass sie nicht an eine Dualität zwischen Inhalt und Form glauben.
K: Ja, und daran gäbe es selbst aus heutiger Sicht nichts zu deuteln. Schauen sie, es gibt Menschen mit unglaublich viel Wissen und Bildung, die ganze Romane im Kopf zu haben scheinen, jedoch den Transport auf’s Papier nicht vertragen und somit an der Umsetzung scheitern. Ich halte es ganz wie der Amerikaner John Dewey, der einmal sagte, „dass ein Gramm Erfahrung besser ist, als eine Tonne Theorie“, einfach deshalb, weil jede noch so kümmerliche Erfahrung der Nachprüfung zugänglich und verwertbarer für das eigene Tun ist. Für die Malerei bedeutet dies, dass die Darstellung einer leeren Flasche für die Kunstgeschichte von größerer Bedeutung sein kann, als die Abhandlung des Dreißigjährigen Krieges.
Alltag des Nichtprivaten
C: Darf ich Sie unvermittelt etwas Privates fragen?
K: Ich habe keine Privatheit.
C: Wie das?
K: Es gibt in mir keine Trennung zwischen Privatem und Beruflichem, weil nach nunmehr 25 Jahren gelebter Auseinandersetzung mit Malerei, mein Leben so und so geprägt wurde und nun bis in die verschiedensten Lebensbereiche des Alltags hineinwirkt. Auch hat mein Leben im Grunde nichts Interessantes, daher brauche ich auch kein Geheimnis daraus machen.
C: Gut, das vereinfacht vieles. Sie leben und arbeiten mit ihrer Frau Annett sowie ihrer Tochter Nike in einem Industrieloft im Herzen Leipzigs. Wenn es also die Sphäre des Privaten in Ihrem Leben nicht gibt, so erlauben Sie mir ohne Umschweife zu fragen, wie sie gewöhnlich den Tag beginnen?
K: Mit einer Albernheit: Mit zehn- bis zwanzigminütiger Morgengymnastik.
C: Warum betreiben sie Morgengymnastik?
K: Um fit für die Arbeit zu sein.
C: Ist Malerei so anstrengend?
K: Sie ist anstrengend – mal mehr, mal weniger und verursacht zuweilen auch Schweißausbrüche. Die Fitness, die ich meine, hat auch weniger einen durchtrainierten Körper zum Ziel, sondern dient vielmehr der Voraussetzung, täglich mehrere Stunden im Atelier stehen zu können. Und zum Stehen braucht man nun einmal auch die Knie, die in meinem Fall leider durch zu langes und aktives Fußballspielen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Daher die Morgengymnastik – damit aus dem Handicap kein Verhängnis wird.
Spiritualität, Glaube und Atheismus
C: Ich habe in einem früheren Aufsatz erwähnt, dass Sie an den Grenzen unseres Daseins, an seinen Wendepunkten und Übergängen, arbeiten. Auffällig ist mir dabei stets das Numinose. Meine Frage zielt auf den religiösen Impetus in ihren Bildern, denn in ihnen kommt nicht nur eine Sehnsucht nach Epischem, sondern auch nach Mythischem und dem Heiligen zum Ausdruck. Ich weiß, dass Sie sich früher als atheistischen Epikuräer bezeichneten. Lassen Sie mich aber dennoch nach ihrer Religiosität fragen. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihren Bildern das Vorhandensein eines religiös motivierten Grundes ansehe?
K: Wenn Sie damit mein Streben nach Wunsch und Mutmaßung meinen, hätte ich nichts einzuwenden.
C: Und ich meine weiter, dass eine Strebensreligiosität – im Gegensatz zu einer frömmigen Sollensreligiosität – in keinem anderen Gemälde als in Ihrem Papstbild ‚make/believe‘ (2009) zum Ausdruck kommt.
K: Mag sein. Wie gesagt: Ich kommentiere meine Bilder nicht. Ich kann Ihnen im Hinblick auf mein Wunschstreben lediglich sagen, dass die vorgefundene Welt stets in eine nur mäßig wiedererkennbare Welt überführt werden muss, denn schließlich bin ich kein Dokumentarist. Letztlich spürt doch ein jeder von uns eine spirituelle Verbindung zum Weltganzen. Das ist nicht nur etwas religiöses, das ist etwas allgemein Menschliches. Die Weltreligionen haben mich mit ihren doch recht etwas simplen, wenn auch amüsanten Schöpfungsmotiven nie sonderlich inspirieren können, vielleicht, weil sie das Weltgeheimnis zu deuten meinten – während der Mystiker die doch umfassenderen Geschichten des Weltganzen nicht auf einen Nenner zu bringen bereit ist und somit nicht an der geheimnisvollen Poesie des Weltganzen rührt.
C: Der Mystiker erkennt die Grenzen des eigenen Geistes und auch des eigenen Körpers als etwas unentwegt Suchendes.
K: Und die Suche ist an sich vielleicht schwieriger, weil anstrengender, aber sie fühlt sich letztlich erfahrbarer, als die Gewissheit des Glaubenden, angekommen zu sein.
C: Wie kann ich mir diesen Übergang einer Ist-Welt in eine Wunsch-Welt vorstellen? Wie vollzieht er sich?
K: Wie kann man etwas beschreiben, was den Zustand der Leere zum Ziel hat?
C: Sie meinen mit Leere den Zustand, der das Andere erst evoziert?
K: Wenn ich ein Bild beende, sind alle Erfahrungen, die ich damit hatte so gegenwärtig, dass sie in mir – bewusst oder unbewusst – nur fortwirken können. Daher hat das nächste Bild immer zur Voraussetzung, dass ich mich vom alten Bild befreie, mich von ihm distanziere und somit verabschiede. Der Abschied vom Alten und die ersehnte Leere hat zum Ziel, mich empfindsam und zugleich empfänglich für das Neue zu machen.
C: Jetzt verstehe ich auch, warum in ihrem geräumigen Atelier immer nur ein Gemälde zu betrachten ist und ihr Arbeitsraum gleichsam so bereinigt, so aufgeräumt wirkt.
K: Ja.
C: Noch einmal zum Übergang der Ist-Welt in die Wunsch-Welt, da mich jene Kippbewegung so sehr interessiert: Was geht in Ihnen in diesem Transformationsprozess vor? Was passiert mit Ihnen?
K: Es herrscht ein Moment der Stille und der Dunkelheit, als ob nur der Tod auf mich warten würde.
C: In einem Zustand der inneren Versenkung sehen Sie fantasierte Konstellationen, die Sie sonst im Alltag nicht sehen. Richtig?
K: Die Bilder müssen zu mir kommen. Ich gehe nicht zu ihnen.
C: Was geht in Ihnen genau vor, wenn die Bilder – wie Sie sagen – zu Ihnen gekommen sind?
K: Es ist, als ob alles einrastet, als ob das Universum und ich in diesem Moment eins werden. Es ist ein unglaublicher Impuls, der aber auch vonnöten ist, denn ohne jenen Impuls hundertprozentiger Freude, ohne den Moment des Überschwangs würde ich kein einziges Bild malen können. Denn mit jedem Gemälde beginne ich doch eine Liebesbeziehung.
C: Und wie weit trägt der Zustand der Verliebtheit?
K: Die Energie, die ich durch meine Liebesbeziehung empfange, muss in jedem Fall bis zum letzten Pinselschlag andauern, da sonst mein Bild bereits vor Fertigstellung seinem Untergang geweiht sein dürfte. Ein Bild in die Welt gesetzt zu haben, bedeutet gleichsam, ein neues Baby in die Welt zu setzen, für das es aber im Anschluss keine Betreuung geben darf, denn ein Bild muss sich nach seiner Geburt alleine behaupten. Insofern nützt der freudvollste Impuls, die größten Vorbereitungen nichts, wenn dies alles nicht entsprechend überzeugend umgesetzt wurde. Und darauf kommt es nun einmal an – egal, ob es sich dabei um Literaturen, Bildhauereien oder Malereien handelt.
C: Sie hatten den Vergleich eines Malers mit einem Zahnarzt gemacht. Bekommen Sie gelegentlich Zahnschmerzen, wenn eine erfahrene New Yorker Kunsthistorikerin dieses Loch mit dem Begriff „Sottorealismus“ auffüllt?
K: Ganz und gar nicht, obwohl ich nicht weiß, ob dieser Begriff epochemachend sein wird …
C: Nun ist aber der Begriff in der Welt. Was halten Sie davon, wenn die Arbeit des Malers in die abstrakte Welt der Rezeption eingeht?
K: Was die Resonanz meiner Bilder anbelangt, bin ich kein Akteur, sondern ein Beobachter. Aber es ist immer schön, wenn die Bilder verschiedenen Interpretationen Anlass geben und sogar zu Neologismen anregen. Die Bilder legen es darauf an, selbst aktiv zu werden. Was soll ich dazu sagen? Es lässt sich für den Moment noch nicht viel darüber sagen, außer dass der Neubegriff vielleicht besser – als jeder andere Gattungsbegriff – die Methodik meines Arbeitsansatzes, die ich mit dem Bild „Der Besuch“ seit nun fast 15 Jahren praktiziere, zu beschreiben versteht. Der Aufbau eines Modells und das danach einsetzende zögernde und prüfende Durchschreiten des Modells, lässt mich doch weniger im Labyrinth der plötzlichen Ideen umherirren. Es ist zudem ein komfortabler und zugleich wunderbarer Vorgang, über bereits modellierte Szenerien zu navigieren und im Suchen Korrekturen vornehmen zu können. Dann spüre ich wieder das Blut in meinen Adern und die Gewissheit, dass ich lebe.
©2014 Paul-Henri Campbell | Aris Kalaizis
Paul-Henri Campbell, geb. 1982 in Boston (USA), hat Altgriechisch und Katholische Theologie studiert. Er verfasst Lyrik in deutscher und englischer Sprache. Zuletzt erschienen »Space Race« (2012) und »Am Ende der Zeilen« (2013).