Das Rätsel des Selbst als Augen-Täuschung
In einer weiteren Bildannäherung nimmt sich die Psychoanalytikerin Fotini Ladaki dem Kalaizis-Gemälde "Kairos" an. Anhand dieses Bildes untersucht die Autorin den mannigfaltigen Wettstreit menschlicher Wahrnehmungen in Bezug zu dem, was wir gemeinhin als Wirklichkeit bezeichnen.
„Ich habe eine Krankheit: Ich sehe die Sprache“
(Roland Barthes)
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“
(Sokrates)
Kairos. Auf diesem Bild von Aris Kalaizis’ sitzt ein Ich sich selbst gegenüber: Mal von der linken, mal von der rechten Seite. Dahinter eine Spiegelung der beiden Protagonisten. Ein Haupt ist mit einem Schleier bedeckt. Mal ist seine Profilansicht vom Schatten überschattet. Mit den Augen fixierend scheinen beide (Das Ich und das Selbst) einen Angriff oder einen wetteifernden, kritischen Blick auf sich zu starten. Eine Paragone?
Um was geht es bei diesem Wettstreit? Der Maler der Leipziger Schule lädt uns offensichtlich ein, diesem selbstreflexiven Schauspiel beizuwohnen? Überhaupt scheint die Parallele zu einem Schauspiel, einem Theater treffend. Alles Wesentliche scheint in dieser selbstreflexiven Unternehmung dargestellt, alles Unwesentliche nicht sichtbar. Und der Betrachter? Mit wem soll er in Beziehung treten?
Hypermetapher menschlicher Täuschung
Sollte sich der Betrachter anstelle der dargestellten Subjekte wähnen? Ist dieses Bild eine Hypermetapher menschlicher Täuschung, der Augentäuschung, die nach Lacan ein wichtiger Bestandteil der Malerei ist?
In der Kunstgeschichte verhandelt Paragone den Wettstreit der Künste, vor allem den Wettstreit zwischen der Malerei und der Bildhauerei, Paragone delle arti. Diese Auseinandersetzung fand vornehmlich in der Renaissance, wie auch im frühen Barock statt. Aber um welchen Wettstreit kann es bei dem Bild von Aris Kalaizis gehen?
Geht es womöglich um die Schaulust und den Wettstreit zwischen Auge und Blick?
Denn Auge und Blick sind nach vielen Philosophen und Psychoanalytikern zwei getrennte Entitäten, obwohl sie das Sehen, das Gesehen-werden und die Schaulust (skopischer Trieb) umkreisen. Das Subjekt der Sprache ist nicht einheitlich, sondern gespalten.
Diese Teilung des Subjekts realisiert sich auf dem Feld des Sehens in zwei Formen: das Sehen, das auf dem Auge beruht und das Sehen, das in einem Blick mündet. Insofern könnte man den Bildtitel „Kairos“ mit Augenblick übersetzen?
Auch das Bild von Hans Holbein „Die französischen Gesandten“ ist ein Musterbeispiel für die Teilung von Auge und Blick wie auch für das Phänomen der Anamorphose. Anamorphosen sind Umformungen, die einen Spiegel zur Entschlüsselung von Bildern benötigen.
Bereits 1709 schrieb George Berkeley in seiner Theorie über das Sehen den Spruch esse percipi est. Für ihn existiert das Sein durch das Wahrgenommenwerden.
Auch Lacan hat sich in seinem XI Seminar intensiv mit dem Auge und dem Blick und auch bezüglich der Malerei und allgemeiner des Bildes/Tableaus befasst: Nach Lacan sind wir in dem Schauspiel der Welt angeschaute Wesen. Man sieht nur von einem Punkt aus, wird aber von allen Seiten erblickt.
Der Blick kann aber auch mit einem bösen Blick zu tun haben und erzeugt nach Sartre in dem erblickten Subjekt Scham. Lacan spricht den Blick dem Äußeren zu, während er das Sehen und das Auge auf das geometrale Sehen konzentriert. Dem Blick spricht er somit eine Präexistenz zu.
„Die Funktion des Bildes – bezogen auf den, dem der Maler, buchstäblich, sein Bild zu sehen gibt – bezieht sich auf den Blick. Diese Beziehung ist nicht, wie man zunächst vielleicht meinen könnte, eine Blickfalle.
Man könnte glauben, der Maler habe es wie der Schauspieler auf ein Hast-du-mich-gesehen abgesehen, als wünsche er sich, betrachtet zu werden.
Und ich glaube es nicht. Ich glaube zwar, dass auch ein Blickverhältnis , wie es zumeist unter Liebenden gesucht wird, entstehen kann. Aber letztlich ist dieses Verhältnis komplexerer Natur.
Der Maler gibt demjenigen, der sich vor sein Bild stellt, eine Aufgabe, die sich vielleicht simpel so zusammenfassen könnte: Du willst also sehen. Wenn dem so ist, so sieh dieses! Es gibt etwas, das eine Augenweide ist, das deinen Blick letztlich weiten könnte.
Gleichsam gibt es eine unausgesprochene Versuchung, den Blick des Malers im Betrachters zu deponieren, als würde man Waffen deponieren.
Die Selbstbetrachtung nicht selten einer gewissen Augen-Täuschung unterliegt
Schon bei der ersten Annäherung sehen wir, dass in der Dialektik von Auge und Blick nicht Koinzidenz herrscht, sondern zutiefst Trug/leurre. …Umgekehrt ist das, was ich erblicke, nie das, was ich sehen will.
Das Verhältnis von Maler und Kunstliebhaber, von dem ich eben sprach, ist was immer man sagen mag, Spiel, Augentäuschungsspiel. Es geht eigentlich um die Täuschung des Auges. Über das Auge triumphiert der Blick.“ (J. Lacan: „Das Seminar Buch XI. Die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse“, S. 107 – 109)
Demnach scheint es, als würde das Kalaizis’ Gemälde diesen Wettstreit gewinnen. Der Blick siegt über das Auge, indem es den Betrachter in eine Augentäuschung hineinzieht. Diese Augentäuschung scheint aber auch von dem Titel unterstützt zu werden.
Denn der Titel des Bildes lautet „Kairos“. Dieser Titel evoziert zunächst viele Fragezeichen. Denn der Anblick löst das Tableau ganz anderer Assoziationen aus. Titel wie: “Das Rätsel des Selbst“ oder „Das verborgene Ich“ oder aber auch „Ich-sehe-mich“ scheinen ebenso möglich.
Am Anfang besteht eine gewisse Unlesbarkeit für das Auge. Denn was gesehen wird, bleibt dennoch im Rätselhaften. Möglich ist aber auch, dass Unlesbarkeit das Ziel des Demiurgen ist? Bietet uns Aris Kalaizis eine Augen-Täuschung, ein trompe l´oeil an? Demnach sollte man auch dem Begriff des Selbst nachgehen, ob die Selbstbetrachtung nicht selten einer gewissen Augen-Täuschung unterliegt.
Die Anwesenheit eines konstanten Ichs in Frage gestellt
Denn das Selbst bietet keine absolute Einheit, da das Subjekt der Sprache ein geteiltes und in sich gespaltenes ist. Mit dem Chorlied „Nicht geboren zu sein, übertrifft / alle Vernunft“ in Ödipus auf Kolonos von Sophokles wird die Seins-Leere besungen. Sokrates hat diese Leere anders ausgedrückt. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“.
Freud spricht über den Herrn im eigenen Haus, wo er doch nicht ist, da das Unbewusste es beherrscht. Damit wird die Anwesenheit eines konstanten Ichs in Frage gestellt.
Auch Nietzsche in seinem Nachlass spricht von dem “Subjekt als Vielfalt“ und als „Rendez-vous von Personen“. Denn die halluzinierte Sicherheit eines Ichs, die aus dem Schein des Körperbildes oder eines ihm zugesprochenen Namens konstituiert wird, wird keine existentielle Sicherheit des Seins eines sprechendes Subjekts entstehen.
Man kreiert einen Schein, eine Fiktion, eine Leerstelle, die immer wieder neu ausgefüllt werden muss. Lacan hat diese Uneinheit des Subjekts mit dem corps morcelé (zerstückelten Körper) verglichen.
„Was Hegel die „Nacht der Welt“ nennt (das phantasmatische und präsymbolische Gebiet der Partialtriebe) ist eine unleugbare Komponente der radikalen Selbsterfahrung des Subjekts, die unter anderem in den gefeierten Bildern des Hieronymus Bosch illustriert wird.“ (Slavoj Zizek: Die Tücke des Subjekts, S.52)
Nicht umsonst hat Schelling behauptet, dass die normale Vernunft ein „regulierter Wahnsinn“ sei.
Auch die ständigen Verwandlungen unseres Bewusstseins lassen eine konstante Identität und Einheit als Fiktion erscheinen. Daher konnte man das Werk von Beckett „Der Namenlose“ als Hypermetapher für die fiktionale Identität des sprechenden Subjekts herhalten.
Schelling behauptet, dass die normale Vernunft ein „regulierter Wahnsinn“ sei
Auf einer mythologischen Ebene konnte man „das verborgene Ich“, das in der psychoanalytischen Sprache mit dem Unbewussten übersetzt werden kann, sich als ein trojanische Pferd vorstellen, dass jeden Tag in uns heimliche Eintritte und Angriffe vornimmt, um unser angeblich so unannehmbares Troja (Bewusstes) in Beschlag zu nehmen und zu okkupieren, ohne dass die Trojaner ihm zeitlich Widerstand leisten können.
Und natürlich: Das trojanische Pferd ist ebenfalls das Symbol der List. Diese List jedoch impliziert weder die Hinterlist noch die Arglist, sondern gilt, wie Harro von Senger in seinem Buch „Die Kunst der List“ berichtet, als die höchste Form der Klugheit. Er betrachtet die westliche Welt unserer Zeit als listenblind, da der Begriff sehr stark negativ konnotiert ist. Im antiken Griechenland war sie auch vorhanden, wie die Erfindung des trojanischen Pferdes beweist.
Oder ist es vielleicht anders, als wir zu sehen meinen? In der Tat gibt es eine Welt, aber viele Wirklichkeiten. Welche Wirklichkeit man sieht, hängt nicht zuletzt vom Schlüsselloch ab, durch das man blickt. Man kann die vielschichtige Welt durch verschiedenen Brillen betrachten.“ (Harro von Senger: „Die Kunst der List“, S. 41)
Das Ich und das Selbst sind nun optische Täuschungen. Wenn wir ihnen gerade in die Augen schauen wollen, entdecken wir die Fremdheit, die uns ins Gesicht lacht und zugleich auslacht.
Eine Welt – Viele Wirklichkeiten
Genauso gut sollte man ebenfalls, dem Wesen des Signifikanten Kairos nachgehen. Extrahiert man aus ihm die Bedeutung des günstigen Augenblicks, dann wird man wieder mit den Signifikanten Augen-Blick konfrontiert, der in sich die zwei bereits erwähnte Begriffe Auge und Blick beinhaltet. Über die Paragone des Streitpaares Auge/Blick haben wir bereits berichtet.
Greift man nochmal das Wort Kairos auf, weiß man, dass er nicht identisch mit Chronos ist, der die Messbarkeit der Zeit im Auge behält. In der griechischen Mythologie war Kairos der personifizierte Gott des günstigen Augenblicks, des günstigen Zeitpunktes und der nicht verpassten Entscheidung. Wenn man diesen Augenblick verpasst, kommt es zu nachteiligen Ereignissen und womöglich auch unüberwindbaren Verlusten. Ursprünglich entstammte Kairos nicht der olympischen Genealogie. Erst durch Lysipp, der Hofbildhauer Alexander des Großen, wurde Kairos in den Olympischen Himmel als der jüngste Sohn Zeus aufgenommen und neben Hermes, dem schnellen Götterboten, der Tyche und der Nemesis platziert.
Wenn man den Augenblick verpasst, kommt es zu nachteiligen Ereignissen
In Wikipedia wird ein poetischer Dialog zwischen dem Betrachter und Kairos wiedergegeben, der von Poseidon von Pella als ein Epigramm verfasst worden ist.
Auf Zehenspitzen laufen, schnell wie der Wind sein, Haarlocke an der Stirn, spitzer als ein Messer, kahler Hinterkopf, sind die wichtigsten dem Kairos zugeschriebenen Eigenschaften. Zum Schluss dieses Epigramms kommt es zur Frage:
“Und wozu schuf euch der Künstler?
Euch Wanderern zur Belehrung.“
Kairos selbst ist nun das Produkt des Künstlers? Oder besagen und implizieren seine erwähnten Eigenschaften noch etwas anderes, als das was man bis jetzt nur mit dem günstigen Augenblick einer imaginären Zeitlichkeit in Verbindung gebracht hat? Auch in der Psychologie kommt das Wort Kairos vor in dem Begriff Kairophobie vor. Damit ist die Angst gemeint, Entscheidungen zu fällen.
Ist das unter anderem auch das Begehren von Aris Kalaizis bei diesem Bild? Jede festgelegte Entscheidung wäre ein Irrtum, eine Illusion und eine Verkennung. Denn nur eine Deutung verdirbt jede Bedeutung.
„ …hüte dich vor einem Signifikanten, der Dich auf die Autorität einer einzigen Bedeutung und einen Sinn zurückführen will.“ (H. Cixous: „Das Lachen der Medusa“, S. 59)
Literatur:
Cixous Hélene: „Das Lachen der Medusa“: Herausgegebenen von Esther Hutfless, Gertrude Postl, Elisabeth Schäfer, Passagen Verlag, 2013
Senger von Harro: „Die Kunst der List. Strategeme durchschauen und anwenden“, C.H. Beck, 2016
Lacan Jacques: Das Seminar Buch XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse“, Quadriga 1987
Zizek Slavoj: „Die Tücke des Subjekts“, Suhrkamp, 2001
Fotini Ladaki was born in northern Greece in 1952. A psychoanalyst after Lacan and Freud, she works in her own practice in Cologne. She is also a freelance writer. In addition to several essays on art and psychoanalysis, plays, stories and poetry, she has also written ‘Moritz’ by Gerhard Richter. About the horror of seeing the experience of being. Her other publications can be found on www.praxisfls.de.
©2018 Fotini Ladaki | Aris Kalaizis
Übersetzung: Chris Abbey